Kriegsverbrechen: Wie die Zeugenaussagen ukrainischer Geflüchteter gesammelt werden

Kateryna Leontyeva arbeitet im polnischen Lemkin-Zentrum für die Dokumentation russischer Kriegsverbrechen. Im Interview erzählt sie, was sie beschäftigt.

Kateryna Leontyeva posiert vor einer Ausstellung im Berliner Pilecki-Institut. Die Ausstellung zeigt Beweisfotos, die das Lemkin-Zentrum für die Dokumentation von russischer Kriegsverbrechen von Zeugen aus der Ukraine gesammelt hat.
Kateryna Leontyeva posiert vor einer Ausstellung im Berliner Pilecki-Institut. Die Ausstellung zeigt Beweisfotos, die das Lemkin-Zentrum für die Dokumentation von russischer Kriegsverbrechen von Zeugen aus der Ukraine gesammelt hat.Emmanuele Contini

Fast ein Jahr ist vergangen, seit Russland in die Ukraine einmarschierte und einen brutalen Angriffskrieg begann. Seitdem haben russische Soldaten nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft mehr als 65.000 Kriegsverbrechen in der Ukraine begangen. Um diese zu dokumentieren, wurde Anfang März 2022 das Rafał-Lemkin-Zentrum für die Dokumentation russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine als Projekt des polnischen Pilecki-Instituts gegründet. Das Pilecki-Institut zeichnet sich dadurch aus, sich besonders für die Interessen der Ukraine zu engagieren, es unterstützt Aktivisten und Geflüchtete und verfügt auch über einen Sitz in Berlin am Pariser Platz. Die Hauptaufgabe vom Rafał-Lemkin-Zentrum ist es, ein anonymisiertes Archiv von Zeugenaussagen über russische Kriegsverbrechen zu kreieren, die zukünftig sowohl für Betroffene, Historiker und Journalisten als auch für Ankläger zugänglich sein soll.

Letzte Woche stellte Kateryna Leontyeva, eine Geflüchtete aus Charkiw, die nun in Warschau als Koordinatorin des Zentrums arbeitet, die ersten Ergebnisse im Rahmen einer dreitägigen Konferenz vor, die im Berliner Pilecki-Institut zum Thema der Verfolgung und Dokumentation von Kriegsverbrechen stattfand. Im Interview mit der Berliner Zeitung erzählt sie mehr über die Arbeit des Lemkin-Zentrums, die Gültigkeit der Zeugenaussagen vor Gericht und die Geschichten, die sie besonders beschäftigen.

Berliner Zeitung: Frau Leontyeva, seit fast einem Jahr sammelt das Lemkin-Zentrum in Warschau die Zeugenaussagen ukrainischer Geflüchteter. Wie funktioniert Ihre Arbeit genau?

Kateryna Leontyeva: Wir verwenden einen Fragebogen, der gemeinsam mit Juristen, Historikern und Psychologen entwickelt wurde. Dieser enthält mehr als 40 Fragen, die ein breites Spektrum von Straftaten abdecken und den Zeugen Raum geben, ihre Geschichten vollständig zu verfassen. Einige Menschen ziehen es vor, ein Audio- oder Videointerview zu geben, anstatt sich schriftlich zu äußern. Wir führen auch Videointerviews mit Geflüchteten durch, die durch Polen gereist sind und jetzt woanders leben, auch in Deutschland. Unser Team besteht aus drei fest angestellten Mitarbeitern und einer wachsenden Zahl von Freiwilligen, die in die Flüchtlingszentren gehen, um die Interviews durchzuführen. Wir haben auch Übersetzer und Techniker, die die Video- und Tonaufnahmen bearbeiten, um die Identität der Zeugen zu schützen. Jeder, der diese Befragungen durchführt, wird geschult, um das Wohlbefinden der Zeugen zu schützen und die Möglichkeit einer Retraumatisierung zu minimieren.

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Emmanuele Contini
Zur Person
Kateryna Leontyeva stammt ursprünglich aus Charkiw im Osten der Ukraine. Nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 flüchtete sie mit ihrer 15-jährigen Tochter nach Warschau, wo sie kurz darauf eine ehrenamtliche Rolle im Lemkin-Zentrum für die Dokumentation russischer Kriegsverbrechen aufnahm. Später wurde sie zur Leiterin der Filmabteilung des Zentrums und schließlich zur Koordinatorin für alle Aspekte seiner Arbeit. Der Namensgeber des Zentrums, Rafał Lemkin, hat in den 1940er-Jahren den Begriff „Genozid“ geprägt und für die Uno einen Gesetzesentwurf zur Bestrafung von Völkermord erarbeitet.

Wie viele Zeugenaussagen sind bisher gesammelt worden?

Bislang haben wir 695 schriftliche Zeugenaussagen gesammelt und 386 Videointerviews durchgeführt. Die häufigsten Straftaten, die dabei festgestellt wurden, sind die Zerstörung der zivilen Infrastruktur, Mord oder Verwundung, Geiselnahme und Verhöre von Zivilisten sowie die Vorenthaltung grundlegender Rechte.

Welche Wirkung hat es auf Sie, immer wieder solche Geschichten zu hören?

Ich fühle mich den Menschen, die ihre Geschichten mit mir teilen, sehr nahe – es ist fast so, als würde ich in einer kleineren Gemeinschaft in einem Dorf leben, und sie wären meine Nachbarn. Obwohl ich die meisten der Menschen in den Videointerviews nie kennengelernt habe, machen mich diese persönlichen Geschichten, vor allem die schrecklichen, wirklich traurig und wütend. Es motiviert mich, alles zu tun, damit die Ukraine diesen Krieg gewinnt, die Täter strafrechtlich verfolgt werden und die betroffenen Familien zumindest die Gewissheit haben, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen wurden.

Während der Konferenz im Pilecki-Institut zeigte eine Ausstellung Auszüge aus den Fragebögen und Videointerviews der Zeugen, die das Lemkin-Zentrum befragt hat.
Während der Konferenz im Pilecki-Institut zeigte eine Ausstellung Auszüge aus den Fragebögen und Videointerviews der Zeugen, die das Lemkin-Zentrum befragt hat.Emmanuele Contini

Gibt es eine Geschichte, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Die Geschichte einer Frau namens Oksana hat mich sehr betroffen. Sie war mit ihrem Mann und ihren Kindern in ihrem Sommerhaus im Dorf Andrijivka in der Region Kiew, als es am 27. Februar besetzt wurde. Kurz darauf war ihr Mann verschwunden; sie stellte fest, dass die Russen ihn mitgenommen hatten. Nachdem die russischen Truppen am 30. März abgezogen waren, brauchte sie 44 Tage, um seine Leiche zu finden – sie war auf einem Komposthaufen im Garten eines Nachbarn abgelegt worden, denn es war verboten, sie zu vergraben. Zu dieser Zeit war unser Team in Andrijivka, um Zeugenaussagen zu filmen. Es handelte sich um eine ganz normale Familie: Ein Vater und eine Mutter, die sich um das Leben ihrer Kinder kümmerten, die an den Wochenenden Fahrrad fuhren und wandern gingen, die einfach ein normales Leben genossen haben. Es gibt nicht mehr viele normale Familien in der Ukraine, hier ist eine von vielen, die besonders gelitten haben.

„Eine Frau füllte Abführmittel in die Milch, die die Soldaten ihr wegnahmen“

Aber es gibt auch die mutigen Geschichten. Im selben Dorf gab es eine Frau, die ihr Handy ausschaltete, es unter dem Boden versteckte und die alten Handys ihrer Enkelkinder mit kaputten Bildschirmen auf den Tisch legte. Als die Russen kamen und nach elektronischen Geräten suchten, zeigte sie die kaputten Handys und sagte: „Ihr habt die schon kaputt gemacht, aber nehmt sie mit, wenn ihr wollt.“ So behielt sie ihr Handy und hatte es bis zum Ende der Besatzung. Eine Frau füllte Abführmittel in die Milch, die die Soldaten ihr wegnehmen wollten. Diese Geschichten machen mich so glücklich und stolz. Woher nehmen diese Menschen ihren Mut und ihre Integrität?

Die ukrainischen Staatsanwälte bemühen sich um internationale Unterstützung für einen Prozess, wie es ihn 1945 in Nürnberg gab, in dem Russland für seinen Krieg zur Rechenschaft gezogen werden soll. Werden die von Ihnen gesammelten Zeugenaussagen vor einem etwaigen Gericht, falls ein Prozess überhaupt zustande kommt, als Beweismittel zulässig sein?

Rechtlich gesehen müssen Zeugen unter Eid befragt werden, unsere Interviews werden ohne Eid durchgeführt. Das Lemkin-Zentrum wurde jedoch teilweise durch die Arbeit von General Władysław Anders inspiriert, der im Zweiten Weltkrieg Zeugenaussagen von Soldaten sammelte, die zuvor in sowjetischen Arbeitslagern festgehalten wurden. Diese Zeugenaussagen wurden auch ohne Eid aufgenommen, aber das Ausmaß des Verbrechens erlaubte es, sie vor Gericht zuzulassen. Juristen werden sicher Fragen zu unseren Beweisen haben und werden Mechanismen brauchen, um mit ihnen arbeiten zu können. Im Moment arbeiten wir aber eng mit den polnischen Staatsanwälten zusammen und sorgen dafür, dass alle erforderlichen Verfahren eingehalten werden.

Ist es das endgültige Ziel Ihrer Arbeit, dass diese Zeugenaussagen zur Verfolgung der Verantwortlichen für diesen Krieg verwendet werden können?

Nicht nur das. Wir wollen auch die Medien, Wissenschaftler und Historiker und wahrscheinlich auch Kinder und andere Verwandte der Kriegsopfer informieren. Es werden zehn oder 20 Jahre vergehen und es wird immer noch Menschen geben, die nach ihren Angehörigen suchen und erfahren wollen, was in ihren Dörfern vor sich ging. Ich glaube, unser Archiv wird die beste Quelle für solche Informationen sein.

„Wir werden zurückkehren in unserer Land! Wir sind die Ukraine!“: So endete die 21-jährige Viktoriia aus Cherson ihre Zeugenaussage für das Archiv des Lemkin-Zentrums.
„Wir werden zurückkehren in unserer Land! Wir sind die Ukraine!“: So endete die 21-jährige Viktoriia aus Cherson ihre Zeugenaussage für das Archiv des Lemkin-Zentrums.Emmanuele Contini

Welche Gründe geben die Menschen an, warum sie ihre Geschichten mit Ihnen teilen wollen?

Wenn sie den Namen des Zentrums hören – das Lemkin-Zentrums für die Dokumentation russischer Kriegsverbrechen – verstehen sie, dass sie einen Beitrag leisten können. Sie wissen nicht, wie die internationalen Gerichte funktionieren, sie kennen das Verfahren eines Tribunals nicht, aber sie verstehen, dass ihre Worte wichtig sind. Aber manche Menschen wollen einfach mit ihrem Leben weitergehen. Je schwieriger die Geschichte ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie weitermachen wollen.

In Ihrem Archiv werden auch Daten über Verbrechen wie die Tötung von Tieren erfasst, obwohl es sich dabei nicht um Kriegsverbrechen handelt. Warum dokumentieren Sie auch solche Taten?

Es entsteht daraus ein Bild, das noch genauer darstellt, was Russland unserem Land antut. Ich glaube, es sagt viel über einen Menschen aus, der Hunde und Schafe einfach willkürlich tötet, der einen Menschen tötet und die Angehörigen die Leiche nicht abholen oder begraben lässt. Vielleicht helfen uns solche Vorfälle, die Frage zu beantworten: Wie konnte die russische Gesellschaft so werden, dass diese Soldaten solche Untaten begehen konnten?

Können Sie die Zeugenaussagen verifizieren?

Alle unsere Interviews und Fragebögen werden im Beisein eines unserer Mitarbeiter ausgefüllt, um die Identität des Zeugen sicherzustellen. Wir haben auch Freiwillige, die für uns Daten und Materialen aus den Medien sammeln, die wir zur Gegenprüfung verwenden, soweit das möglich ist. Wir können das nicht für alle Fälle tun, denn die Menschen berichten uns oft von Ereignissen, die schwer zu verfolgen sind – zum Beispiel in sehr kleinen Dörfern. Wenn wir die Menschen in den Flüchtlingszentren befragen und sie versuchen, ihren Fragebögen Fotos beizufügen, bitten wir sie auch immer darum, uns mitzuteilen, welche dieser Fotos sie selbst aufgenommen haben, welche von anderen Personen stammen und welche aus Telegram-Kanälen und anderen Medien kommen – damit wir wissen, dass diese Bilder tatsächlich die Orte zeigen, die sie in ihren Aussagen beschreiben.

„Viele Menschen haben sich an diese Geschichten aus dem Krieg gewöhnt“

Es ist nun fast ein Jahr her, dass die Invasion und der Krieg in der Ukraine in vollem Umfang begannen. Haben Sie das Gefühl, dass sich die Menschen außerhalb der Ukraine an die Geschichten und Bilder gewöhnt haben, die in Ihrem Archiv dokumentiert sind?

Ja, auf jeden Fall. Deshalb suchen wir immer wieder nach neuen Formaten, um auf diese Geschichten aufmerksam zu machen. Wir haben zum Beispiel in Warschau, Kiew und Lwiw Theateraufführungen mit Lesungen aus den Zeugenaussagen veranstaltet. Die Menschen werden des Krieges überdrüssig, und ich verstehe, dass dies in der menschlichen Natur liegt. Aber ich kann auch nicht vergessen, dass in jeder Minute dieses Krieges jemand stirbt, jemand sein Zuhause verliert, die Kinder wachsen und wir werden immer älter, und der Krieg ist immer noch da. Ich möchte nicht, dass die Menschen leiden, aber ich möchte sicherstellen, dass wir sensibel bleiben für das, was gerade passiert.

Russische Politiker und staatliche Medien haben oft behauptet, die in Städten wie Borodjanka oder Butscha entdeckten Verbrechen seien inszeniert worden. Erwarten Sie, dass Ihr Archiv mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert wird – vor allem, weil es so viel offizielle polnische Unterstützung hat?

Ich bin mir sicher, dass wir beobachtet werden, und ich bin mir sicher, dass, selbst wenn die Ukraine den Krieg gewinnt, man in einigen Jahren versuchen wird, ein Narrativ aufzubauen, dass wir alle Kollaborateure waren. Wir werden das ewige Argument hören, dass Russland nichts damit zu tun hatte. Darauf kann ich nur sagen: Viel Glück. Solche Provokationen werden uns nicht davon abhalten, diese Arbeit zu tun.

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