Wenn Putins Bomben auf die Ukraine fallen: Das winzige Licht im dunklen Bunker

„Gesichter des Krieges“. Das fotografische Requiem des Ukrainers Mstyslav Chernov in der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz.

Die hochschwangere Mariana Vishegirskaya konnte beim Bombardement der Geburtsklinik Mariupol am 9. März 2022 gerade noch evakuiert werden. Ihr Gesicht ging als das einer geretteten Madonna um die Welt.
Die hochschwangere Mariana Vishegirskaya konnte beim Bombardement der Geburtsklinik Mariupol am 9. März 2022 gerade noch evakuiert werden. Ihr Gesicht ging als das einer geretteten Madonna um die Welt.Mstyslav Chernov/AP

„Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.“ Dieser zweieinhalbtausend Jahre alte Ausspruch stammt von Platon, dem berühmtesten Schüler des Sokrates.

Nach philosophischen Worten ist es Mstyslav Chernov freilich nicht zumute, als er in den Bunkern und in einer bombardierten Geburtsklinik von Mariupol, in den verwüsteten Straßen, den zerschossenen Wohnquartieren auch in seiner Geburtsstadt Charkiw und den leichenübersäten Straßen von Butscha fotografiert. Der 38-jährige Fotograf, Filmemacher und Autor ist bekannt für seine Berichte schon über die Maidan-Revolution, die Kriege im Irak und in Syrien, Putins Okkupation des Donbass 2014.

Tragödie am 9. März 2022 in der Geburtsklinik von Mariupol. Die Hochschwangere wurde mit ihrem ungeborenen Baby ein Opfer der russischen Aggressoren.
Tragödie am 9. März 2022 in der Geburtsklinik von Mariupol. Die Hochschwangere wurde mit ihrem ungeborenen Baby ein Opfer der russischen Aggressoren.Mstyslav Chernov/AP

Aber seit dem 24. Februar 2022 wird seine Kamera zum Auge des verbrecherischen Aggressionskrieges Putins in der Ukraine. Seine Bilder wurden auf CNN, BBC, in der New York Times, in der Washington Post veröffentlicht. Seine Dokumentation „20 Days in Mariupol“ bekam soeben den Publikumspreis des Sundance-Film-Festivals in den USA.

26 seiner Motive durchziehen auf Aufstellern das abgedunkelte Halbrund des Kirchenschiffes der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit ihren friedensblauen Glasfenster-Wänden, den Kruzifixen und dem Ruinenturm seit Kriegsende 1945. Chernovs Aufnahmen, gezeigt in diesem Mahnmal, formieren sich zu einem fotografischen Requiem.

Die Bilder, bei deren Anblick es mir den Bast von der Seele zieht und der Kloß im Hals nicht weichen will, ergeben gleichsam ein Kriegstagebuch: Am 24. Februar 2022 greift das russische Militär die Ukraine von mehreren Richtungen an. Zuerst konzentrierten sich die Kämpfe auf Mariupol. Als Hafenstadt am Asowschen Meer und Landverbindung von Donezk und Luhansk zur annektierten Krim ist die Stadt ein strategischer Ort. Mariupol wird zum Symbol für den Widerstandswillen der ukrainischen Nation, aber auch für die Zerstörungswut und Grausamkeit der russischen Militärs.

Am 9. März bombardieren russische Truppen eine Kinder- und Geburtsklinik, obwohl der Vorplatz deutlich mit dem russischen Wort für „Kinder“ markiert ist.  Mstyslav Chernov sah, wie er erzählt, „so viel Tod, dass ich fast nur noch filmte, ohne es zu bemerken“. Er tat es automatisch, solange er noch Saft im Akku hatte. Die Gesichter, die Blicke der Menschen, Zivilisten wie Soldaten, brennen sich einem förmlich ein: Die hochschwangere junge blonde Mariana läuft panisch, die Finger in ihrer Bettdecke verkrampft, aus dem Geburtshaus, in den blauen Augen Entsetzen. Auf dem weißen Zettel unterm Bild tröstet der Fotograf: Sie hat überlebt, ihr Baby, ein Mädchen, ist dank der Evakuierung in letzter Minute in einer anderen Stadt geboren. Chernov hat sie später noch telefonisch gesprochen: Mutter und Kind seien gesund.

Aber die andere Hochschwangere auf der Trage, schwer verletzt von einem russischen Geschoss, von verzweifelten und selber verwundeten Männern über den Klinikhof geschleppt, hat es nicht geschafft. Und das Ungeborene starb mit ihr. Das Wunder des Lebens, einfach ausgelöscht durch eine Granate.

Im Bunker von Mariupol, März 2022
Im Bunker von Mariupol, März 2022Mstyslav Chernov/AP

Genau diese Fotos waren Putins Propaganda-Maschinerie Anlass, sie als „inszenierte Fakes“ zu stigmatisieren und Chernov auf die Todesliste zu setzen. Er, der AP-Reporter, ist auch Präsident der Ukrainian Association of Professional Photographers. Er dokumentierte weiter, während er unter Artillerie- und Maschinengewehrfeuer, Granateinschlägen und inmitten schreiender Menschen Schockwellen ertrug, bis er und sein Kollege Yevhen Maloletka unter Lebensgefahr das kaum mehr existente Mariupol verlassen mussten. Chernov kann es nicht aussprechen, aber er hat es aufgeschrieben: „Ich fühlte mich so elend, weil ich all diese Leute zurücklassen musste.“ Doch er und sein Gefährte haben den Schrecken des Krieges für immer auf Filme gebannt: Schutt, Asche, Ruinen, Leichen auf Straßen und Plätzen, Frauen, Männer, Kinder. Die toten Körper scheinen mit der Erde verwachsen zu sein.

Die Bilder verdeutlichen den Zivilisationsbruch, die Apokalypse der einst blühenden Städte, das Entsetzen in den Augen der Frauen, Kinder, Männer, den Schmerz und die Trauer von Müttern und Vätern, die ihre getöteten Kinder beweinen. Diese fast unaushaltbaren Bilder sind ein unwiderlegbares Zeugnis der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber gleichzeitig auch ein Appell, der Ukraine weiterhin beizustehen. Dafür organisierte die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde zusammen mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der Bundeszentrale für politische Bildung diese erschütternde Ausstellung.

Unter den Motiven des Entsetzens und der Trauer gibt es eines aus einem dunklen Bunker: Ein junges Paar hält sich an Händen fest, darin eine Öllampe. Eine Szene wie die „Heilige Nacht“ des Alten Meisters Correggio (das Bild hängt in der Dresdner Gemäldegalerie). In Chernovs Foto ist es der einzige helle Schein, aber er lässt uns die Liebe, das Harren und Hoffen in den Gesichtern des Paares sehen und im Bunkerbild daneben sogar lesende Kinder. Es ist die Hoffnung, die nie sterben darf!

Gesichter des Krieges. Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Berliner Breitscheidplatz, bis 5. April, täglich 10–20 Uhr