Schlingernde Farbtöne, Pop-Art, Cowboys: Zeitgenössische Malerei im Bethanien
Die Ausstellung „Dissonance. Platform Germany“ tritt den Beweis an, wie sehr Deutschland seit der Wiedervereinigung zum Forum internationaler Malerei wurde.

Üblicherweise erscheint zu großen Ausstellungen ein Katalog. Er umfasst Anliegen, Inhalt, Thesen der jeweiligen Schau, bildet die Werke ab und ordnet sie in die Kunstgeschichte ein. „Dissonance“ dreht das Ganze nun um. Die Ausstellungsmacher Mark Gisbourne und Christoph Tannert haben einen Band über die Malerei-Plattform „Platform Germany“ geschrieben, bebildert und in der Berliner Dr. Cantz’schen Verlagsgesellschaft herausgegeben. Und erst im Anschluss eine Ausstellung kuratiert. Eine, die das dumme Gerede der totgesagten Malerei Lügen straft.
Im Schauraum des Künstlerhauses Bethanien an der Kottbusser Straße kommen 40 der 81 in dem Buch erfassten Malerei-Positionen zum Leuchten. Derart farbintensiv und zwanglos in der Thematik war kaum eine Ausstellung in einer der hiesigen Institutionen zu sehen. Die ausstellenden Malerinnen und Maler stehen für jene Jahrgänge der Königsdisziplin Malerei nach 1972, die noch Teenager oder Kinder waren, als die Mauer fiel und Deutschland wieder eins wurde.
Diese intensiv malende Künstler-Generation stammt aus allen Richtungen der Windrose und lebt in Deutschland, insbesondere in Berlin. Vor allem aber folgt sie keiner jener kollektiven Strömungen, wie sie im geteilten Deutschland mit der westlichen Moderne im Westen und dem von der sozialistischen Idee geprägten Realismus im Osten typisch waren.

Assoziation und Fantasie
Was wir hier sehen, entspringt einer sehr individuellen Weltsicht und Kunstsprache, für die man als Betrachterin mit viel Assoziationsvermögen und Fantasie nach dem Schlüssel suchen muss. Der ideologisch aufgeheizte, deutsch-deutsche Bilderstreit, der erst 2013 mit der Weimarer Schau „Abschied von Ikarus“ Befriedung fand, tangiert diese junge Malerei nicht. Es wird gemalt, wie es aus Kopf, Bauch und Seele kommt. Nicht, was einem Kanon entspricht.
Abstrakt oder figürlich? Das sind längst keine Antipoden mehr. Schon gar nicht, wenn sie ideologisch instrumentalisiert werden. Gleichwohl erfasst die pluralistische Malerei dieser in den Siebziger- und Achtzigerjahren geborenen Generation die kulturellen und soziologischen Verschiebungen und Divergenzen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, auch die Krisen, Kriege und ökologischen Bedrohungen mit seismografischer Präzision.
Mit ihrer Schau und ihrem Buch belegen die Kuratoren, wie sehr Deutschland seit der Wiedervereinigung zu einem bedeutenden Forum der internationalen Malerei diskutiert wird. So offensichtlich wie anregend wirkt das Dissonante, Unharmonische. Und so entstand eine erhellende Überblicksausstellung zu einem der spannendsten Kapitel der jüngsten hiesigen Kunstgeschichte.
Gleich neben dem Eingang hängt ein Leuchtkasten-Gemälde von Philipp Fürhofer, raumgreifend und komplex: Malerei über alten Glühbirnen – Titel: „Ewiges Leben“. Man schaut hinein wie in die Unterwelt. In gleichsam dadaistischer, montageartiger Manier verdichtet und verstört der Künstler den Zustand unserer Welt, verbindet Umwelt mit dystopischem Abgrund. Alles passiert gleichzeitig.

Ähnliches sieht man in dem Gemälde von Hortensia Mi Kafchin, die vor sieben Jahren aus Rumänien nach Berlin kam. Seither unterzog sie sich einer Transgender-Therapie, ist heute eine schöne, junge Frau. Die emotionale Achterbahnfahrt auf diesem Weg aber wird bildhaft in metaphorischen, surrealen Motiven – kaleidoskopisch, collagehaft, als Hybride aus Kunstgeschichte, Popkultur und inneren Chimären des Auf und Ab.
Und vor dem Gemälde Fritz Bornstücks fragt man sich: Wie bändigt er diese unglaubliche Fülle an Einfällen und Geschichten: wildes Wasser unter von Wolken durchzogenem knallblauem Himmel. Gestalten auf Eisschollen, schwimmende Blechfässer, deren Inhalt man nicht kennt, Spazierstöcke mit Segeln, Zigarettenkippen, schwimmende Flaschenpost, eine wie verhackstückte, vermüllte Welt, über der ein höhnisches Lachen droht.

Justine Otto hat in ineinander laufendem, schlingerndem und disharmonischem Rot-Lila und Grün-Blau einen Cowboy zu Pferde gemalt, der mit dem Lasso auf uns Betrachter zureitet. Sie löscht das Gesicht des Machos durch die fleckende Farbe aus, überzieht den Western-Heldenmythos mit knalliger Ironie. Ein paar Schritte weiter gräbt Emmanuel Bornstein mit Pinsel, Schaber und expressiv-splittrigem Farbauftrag nach dem Sinn des Daseins. Alles wirkt dramatisch, aber sarkastisch gebrochen, wie ein Rückgriff aufs absurde Theater, wo nichts vorankommt, sich alles im Kreise dreht und unter den Krusten der Gleichgültigkeit der Gesellschaft stecken bleibt. Aber Bornstein ist kein kathartischer Verkünder, eher ein Spurenleger.
Rätselhafte Schönheit steckt in den zwischen Abstraktion und Realismus oszillierenden Objekten Mona Ardeleanus. In ihrer besonderen, fast ornamentalen Malweise verbindet die Stuttgarterin Stofflichkeit und Geometrie. Man glaubt, in den Mustern Bekanntes zu entdecken. Aber da sind immer wieder Brüche in den Gebilden, sodass doch kein bestimmter Gegenstand zu erkennen ist. Vorlagen nutzt die Malerin nicht, ihre Motive entstehen während des Malens. Ardeleanu wählt einfarbige Hintergründe, so entstehen amorphe Gebilde, anzusehen wie Haut.

Einer der 40 Ausstellenden ist der Berliner Ruprecht von Kaufmann. Er schafft eine Malerei, die in eher filmischer Weise erzählt. Und zwar davon, dass das Leben schön, die Welt aber sehr bedroht ist, weil es eben keine Utopien mehr gibt. Und das liegt, das besagt seine melancholisch-dystopische Bildsprache, bekanntlich nicht an Mutter Erde, auch nicht am Universum, an Gott oder Göttern. Sondern an den Menschen selbst.
Künstlerhaus Bethanien, Schauraum Kottbusser Str. 19. Bis 11. September, Di.–So. 14–19 Uhr. Eintritt frei. Das Buch „Dissonance. Platform Germany“ (DCV) kostet 65 Euro. Möglich wurde das Projekt durch Unterstützung der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa sowie Galerien aus Berlin, Leipzig, Köln, Bonn, Helsinki, Rom, Zürich.