Wolfgang Laib in Berlin: Hier wird aus Natur Kunst
Die Reishäuser-Reliquien des Künstler-Philosophen laden in der Berliner Buchmann-Galerie zu meditativen Reisen in eine andere Welt ein.

Die Leute werden ganz still. Sachte gehen sie um die Skulpturen auf dem Boden der Galerie herum, halten an vor den schuppenartigen, langgezogenen, giebelförmigen Häusern aus Holz. Die sind rot, weiß und rotschwarz bemalt, mit gewöhnlichem Siegellack und mit schwärzlichem burmesischen Lack. Oder überzogen mit dünnem Weißblech.
Bloß nicht anstoßen an diese fragilen Gebilde! Und schon gar nicht drauftreten auf die um eines der Häuser geschütteten Häufchen Reiskörner und rapsgelbem Blütenstaub! Es sind Millionen Pollen, gesammelt vom Künstler Wolfgang Laib in zahllosen Stunden Handarbeit, im Wald, auf Wiesen, Feldern.
Die Objekte des süddeutschen Natur-Konzeptualisten, in denen er seit vielen Jahren Natur zu Kunst werden lässt, ziehen selbst hippeligste Typen hinein in eine meditative Stimmung. In seinen geometrischen „Häusern“ hat Laib kiloweise Reiskörner eingeschlossen, als wären es Reliquien. Die versiegelten Objekte bewahren in ihrem Inneren etwas auf, das sich uns Betrachtenden entzieht, in der Vorstellung aber eine große Kraft besitzt. Die reduzierte äußere Form und kostbare Materialität verleiht den Reishäusern eine auratische Kraft. Es scheint den Skulpturen etwas Zeitloses und Ursprüngliches, und zugleich etwas Allgemeingültiges innezuwohnen.
Reis ist Leben
Reis ist viel mehr als das alltägliche, lebensnotwendige Nahrungsmittel für Milliarden von Menschen. Reis ist in Asien heilig, ist Symbol für Fruchtbarkeit, Freundschaft und für Glück. Auch in westlichen Kulturen werden Hochzeitspaare mit Reiskörnern überschüttet. Schon seit Jahrtausenden ist das Reiskorn ein Mythos. Reis ist Leben, wie das Wasser, aus dem er wächst. Und ohne Reis droht Hunger, ganz ähnlich wie beim Brotgetreide, wo jetzt durch Putins Aggressionskrieg gegen die „Kornkammer“ Ukraine ein folgenreicher Mangel für Milliarden Menschen auf der Welt entstehen kann.
Natur wird Kunst. Das Land-Art-Prinzip setzt der 1950 in Metzingen geborene Laib, der 2015 mit dem Premium Imperiale, dem japanischen und welthöchsten Kunstpreis geehrt wurde, auf subtile Weise um. Dieser Minimalist ist ebenso als Poet und Philosoph wahrzunehmen. Er zieht sich offensichtlich gern vom weltlichen Hasten, Treiben, Trachten zurück, um auf Du und Du mit der Natur zu sein. Sie ist für ihn, der Medizin studierte, bevor er sich ganz der Kunst widmete, ein sinnlich erfahrbares Mittel.
Die Natur ist für ihn Arbeits- und auch Andachtsraum. Mithilfe der Natur kann er – der sich mit Zen-Buddhismus und Taoismus ebenso befasst wie mit der Mystik der Antike und des Mittelalters – auf größere Zusammenhänge verweisen. So auf die Ganzheitlichkeit, in der fernöstlichen Zen-Philosophie auch Kokoro genannt. Alles hängt mit allem zusammen. Mensch, Tier, Pflanze, Elemente. Mit dieser Lebenssicht, der Beschäftigung mit dem Elementaren und mit dem Aspekt Zeit, will Laib keine seiner Arbeiten endgültig abschließen.

In der Berliner Ausstellung steht ein „Ei des Universums“
Sie stehen gleichwertig nebeneinander. Er baut sie auf und wieder ab, zeigt sie an anderen Orten. Ein notwendiges Ritual der Entstehung als Wiedererstehung. Und immer wieder tauchen Chiffren in seinen Skulpturen auf: Holz, Samenkörner, Bienenwachs, Blütenpollen. Die Reiskörner im Haus – als Urform für das, was jeder Mensch haben sollte: eine Behausung. Ein Haus, sagten die griechischen Stoiker, gebe dem menschlichen Leben eine Mitte. Und zugleich sei es Symbol des Kosmos, weil auch die Götter darin lebten. Vom „Haus der Weisheit“ ist in alten fernöstlichen Schriften die Rede, und vom Ort der Geborgenheit in Überlieferungen des frühen Christentums.
Seine ersten Reishäuser hat Wolfgang Laib bereits 1984 geschaffen, als frühe Grundform der Skulptur, die er, mit seinem zyklischen Werkansatz immer wieder aufnimmt und weitererzählt. Es geht ihm, so betont er, aber nicht um Innovation oder formale Weiterentwicklungen, sondern um Kontinuität. Um die Verschmelzung von westlichen minimalistischen Strömungen in der Kunst mit einer Spiritualität, die sich aus seiner Beschäftigung mit indischer Philosophie, Ästhetik und Religion speist.
In der Berliner Ausstellung ist auch eine eiförmige Skulptur aus Granit aufgestellt, ein „Brahmanda“. Das bedeutet im Sanskrit „Ei des Universums“. Laibs alter Freund, der 2005 verstorbene legendäre Schweizer Documenta-5-Impresario Harald Szeemann, beschrieb Laib als „Träger eines archaischen Wissens“ und als einen Künstler, der „durch kleinste skulpturale Gesten unermesslich weite innere Räume aufzeigt“.
Beim Anblick dieser vorsommerlichen Ausstellung in der Berliner Buchmann-Galerie tauchen wir ein in eine andere Ordnung des Da-Seins zwischen Beständigem und Flüchtigem, zwischen Fülle und Leere, zwischen Realem und Irrationalem. Ein meditatives Erlebnis, das in unserer rasanten, oberflächlichen, medialen Welt etwas Rares geworden ist.
Buchmann-Galerie Berlin, Charlottenstr. 13, bis 25. Juni, Di–Sa 11–18 Uhr