Doris Zieglers Selbstbefragung: „Ich bin Du – und Du bist ich“
Die Leipziger Malerin hat im Kunstmuseum Moritzburg mit ihrem „Passagenwerk“ vom Ende der DDR eine seltene Einzelschau. Die Bilder könnten aktueller nicht sein.

Irgendwie verschwand ihr Name immer hinter denen der Lehrer Tübke und Mattheuer. Synonyme der „Leipziger Schule“ für figürlich und metaphernschwer erzählend. Zwar trifft das auch auf ihre Malerei zu, und Doris Ziegler war, wie andere ostdeutsche Malerinnen, bei zentralen Ausstellungen der DDR-Kunst vertreten. Dennoch lag der große Schatten der berühmten Männer über ihren Werken.
Daran hat sich auch in den letzten drei Jahrzehnten in der wiedervereinten deutschen Kunstszene wenig geändert, zumal die Kunst aus dem Osten im Ost-West-Bilderstreit zunächst bösartig abgewertet war. Dieser Zustand ändert sich endlich. Nicht nur, weil der Fluss der Zeit die Perspektive verschiebt und Qualität sich durchsetzt, sondern auch, weil Kuratoren wie der in Dresden wirkende Kunsthistoriker Paul Kaiser mit Ausstellungen wie „Abschied von Ikarus“, „Point of No Return“ (zusammen mit Christoph Tannert), „Sittes Welt“ und nun Zieglers „Ich bin Du“ engagiert kuratierten.
Überdeutlich sehen wir im Kunstmuseum Moritzburg, dass diese Malerin eine der wichtigsten Künstlerinnen der „Leipziger Schule“ ist, an der sie bis 2014 als Professorin im Grundlagenstudium wirkte. Sie malt auf eigenwillige Weise im neusachlichen Stil – und wahlverwandt der existenzialistischen Figurenkunst des gebürtigen Leipzigers Max Beckmann. Es war höchste Zeit für diese Soloschau, 33 Jahre nach dem Ende der DDR. Das Schlüsselbild „Ich bin Du“ von 1988 gibt der Ausstellung den Titel: Weibliche Identität meldete und meldet noch immer vollgültigen Anspruch an. Die nackte Frau, der nackte Mann sind Eva und Adam im Zeitalter der Moderne. Beide schmal, verletzlich, mit blasser Haut, tragen das Gesicht der Malerin, eben nur 33 Jahre jünger als heute. Sie halten sich an den Händen und blicken uns Betrachter unverwandt an, gleichsam beobachtend.
Die Stadtansicht hinter dem merkwürdigen Paar lässt auf die Industrielandschaft von Leipzig-Plagwitz schließen. Bis 1990 rauchten dort die Schlote, ratterten und dröhnten die Maschinen der Baumwollspinnereien. 1988 war dieses Motiv noch eine Provokation, weil es vermeintlich westlichen Feminismus in den realen Sozialismus schleuste. Die Künstlerin zeigt sich in androgyner Gestalt als Mann wie als Frau. Sie stellte also die vorherrschenden Geschlechterrollen in Frage. Das war Jahrzehnte vor dem heutigen Diskurs um Emanzipation, Sex, Gender und Diversität.

Doppelgänger und die Dualität eines existenziellen Bezugs sind typisch für Zieglers Kunst. Ihr Gemälde „Selbst mit Sohn II“, zu sehen 1986/87 auf der X. Kunstausstellung der DDR, sorgte für den letzten Kunstaufreger in der DDR. Darf eine Mutter sich mit ihrem Sohn nackt malen? Auch das „Ich bin Du“-Motiv irritiert: Geht es um eine Romanze? Oder um Persönlichkeitsspaltung? Es ist wohl eher die Analyse einer Situation: Vom Gesetz her herrschte in der DDR Gleichberechtigung. In Wahrheit aber waren Frauen, zumal alleinerziehende wie die Malerin, doppelt belastet und auch beruflich zumeist von Männern dominiert.
Doris Ziegler hatte eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet, einen solchen Auftritt wie den im renommierten Kunstmuseum von Halle zu bekommen, und die im Atelier seit 30 Jahren mit der Butterseite zur Wand stehende Bilder-Serie „Passage“ (1989/90) in derart öffentlichem Lichte zeigen zu können. Nun ist der packende Zyklus, der auf Walter Benjamins Passagen-Werk, die raumverschachtelte Figurensprache Beckmanns sowie auf den Magischen Realismus des Italieners de Chirico oder des Wieners Rudolf Hausner abhebt, in einem großen Saal zu erleben.

Hier spielt das Ziegler‘sche Welttheater. Mittendrin die „Pieta“ von 1990. Wie eingefroren sind Schmerz, Trauer, Wut gemalt. Und Kraft. Ein Ingeborg-Bachmann-Zitat spricht aus der Komposition: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar!“ Das passt auch zu den „Passagenbildern“, Wendebilder, in denen Ziegler sich selbst reflektiert. Dazu lässt sie reale wie fiktive Gefährtinnen jener Umbruchjahre nach dem Mauerfall auftreten.
Die im neusachlichen Stil und zugleich mit dem Ausdruck seelischer Befindlichkeit gemalten, in ihrer kalt-blassen Nacktheit wie ausgesetzten Frauengestalten zitieren zwar das altmeisterlich-religiöse Pieta-Motiv, aber diese Menschenkinder sind ganz heutig. Die Frau mit den traurigen Augen hält auf der Straße, vor einem harten, metaphysischen Schlagschatten auf der Häuserzeile, die leblose Freundin im Arm. Im Hintergrund eine Gründerzeitfabrik – die Leipziger Spinnerei, deren Belegschaft nach der Wiedervereinigung 1990 komplett arbeitslos wurde, weil Garne, Stoffe und Klamotten viel billiger in Asien produziert werden konnten. Die Szenerie ist so beklemmend wie unwirklich-real. Die beiden kalkweißen Frauengestalten wirken in ihrer versehrten Nacktheit einsam und verloren, fast so wie in Trance; Zeichen einer Gesellschaft im Umbruch, der Verwerfungen mit sich bringt. Schwermut breitet sich aus, die Madonna rechts wird zum vor Schmerz erstarrten Klageweib. Wie ein Kollwitz-Motiv.

Die Malerin machte jene Zeit zu einem Figurentheater inmitten einer harten Stadtkulisse. So wie auf einer Shakespear’schen Bühne. Man muss an die Commedia dell’arte mit Harlekin und Columbine denken – Symbolgestalten der ewigen menschlichen Komödie. Auch andere Bilder wie „Boot“ (sie zitiert das mittelalterliche und auch das Beckmann’sche Narrenschiff), „Nachruf“, „Passage II, Hommage à Watteau“ oder „Kopfüber“ sind lesbar als Figurenkonstellationen zwischen der vormundschaftlich engen Ost-Welt und der Ankunft in der Freiheit des neuen Turbo-Kapitalismus: bar aller Gewissheiten, weggerutscht der feste Boden unter den Füßen.
Es war Zieglers „kühler Blick“, geschult an der neusachlichen Kunst der Zwischenkriegszeit, der sie unterschied von ihren Generationskollegen. Respekt vor dem Bildnis und vor dem an der Kunsthochschule als Königsdisziplin geltenden Mehrfigurenbild hielt sie nie davor zurück, in diesem Genre ihren Platz zu suchen. Dies gerade vor der verfremdeten Industriekulisse ihrer Stadt: Plagwitz, heute angesagtes Künstler- und Atelierviertel. Auch Zieglers Straßenbilder sind ganz persönliche Reflexionen der Situation, so in der historischen Mädler-Passage der Messestadt und lesbar wie eine Referenz an Beckmanns Straßenbilder mit harten Kontrasten, paradoxen Stellungen und Gesten. Jugendliche, Künstler, Punks, Proleten, Ausländer – alles Ausgesetzte in einer Kulisse: die imaginäre Gefahr, das Ausgeschlossensein in einer globalisierten Welt.

Darum stehen die Bilder dieser Augenzeugin der politischen und sozialen Umbrüche so exemplarisch für das Finale ostdeutscher Kunstgeschichte. Doris Ziegler erzählt in herber Stilistik vom ewigen Daseinskampf der Menschen zwischen politischen Mächten und Selbstbehauptung.
Doris Ziegler: Malerei. Kunstmuseum Moritzburg, Halle/Saale, bis 21. Mai, Friedemann-Bach-Platz, Do–Di 10–18 Uhr. Monografie (hrsg. von Paul Kaiser) 42,90 Euro