Ein galoppierendes Pferd schlägt man nicht: Zur Berliner Malerin Valérie Favre
Valérie Favre und ihre vermeintlich so unpolitischen Werke über den Zustand der Natur in der Galerie Thumm erzählen viel über unser Verhältnis zum Planeten.

Sie hat es wieder getan. Jetzt, zwölf Jahre später, aktiviert die immer in Serien arbeitende Malerin Valérie Favre mit lustvollem Kalkül abermals das innere Auge von uns Betrachtenden. Damals ging es am gleichen Ort, in der Galerie von Barbara Thumm, um seltsame Wesen, um Chimären, halb Animalia, halb Menschen. Zumeist waren es grotesk-schöne „Federtiere“, und die Ausstellung wurde zu einer Art Vogelbeobachtung mit emotionaler, philosophischer Aufladung.
In ihrer neuen Ausstellung unter dem schrägen Oberlicht-Dach der Kreuzberger Galerie Thumm bezeichnet die 1998 nach Berlin gezogene, an der Universität der Künste lehrende Schweizerin mit französischen Wurzeln ihre Pferdebilder als „Unpolitische Werke“. Der Titel der Schau hat natürlich einen ironischen Hintersinn. Denn Pferde sind für Favre, die im Spektrum der Gegenwartsmalerei zweifellos eine einzigartige Position einnimmt, nicht nur respektgebietend und Ausdruck von Schönheit, Kraft und Freiheit. Sie stehen auch für Domestizierung, Dienstbarkeit, unbedingten Gehorsam, Züchtung, Abhängigkeit, für die Kontrolle des Menschen über die Natur. Immerhin sind diese Tiere seit Jahrtausenden treue Begleiter der Menschen und unverzichtbare vormoderne Transportmittel. Darum spricht man ja bis heute bei Autos von PS – der Maßeinheit für Pferdestärken.

Favre malt die Vierbeiner wie eingefrorene Filmstills, jedoch zugleich in ständiger vibrierender Bewegung. Also Bilder eines unbestimmten Zustands, immer ahnungsvoll und mehr Andeutung denn konkreter Verweis. Manche der kleinformatigen Bildnisse von Vollblütern, Kaltblütern, Warmblütern und Ponys (um sie nur grob einzuteilen) wirken fast wie Ikonen, wie Fabelwesen aus alten Märchen. In dieser Malerei scheint die Zeit ins Unendliche gedehnt. Valérie Favres Bilderzählungen wirken mal wie surreale Kinosequenzen, mal wie Bühnen, aber das Drehbuch und die Regie folgen keiner linearen Handlung, es sind eher miteinander agierende fragmentarische Episoden. Die auftretenden Pferdegeschöpfe sind von sinnlicher Kraft und zugleich voller zauberischer Geheimnisse.
Favre hat, wie sie erzählt, für ihre Serie auch Pferdegemälde des 19. Jahrhunderts studiert, allerdings ohne sich stilistisch in diese Tradition zu begeben. Das waren pathetische englische und russische Genremaler, Symbolisten wie Giovanni Segantini, französische Impressionisten wie Caillebotte oder Degas und deutsche wie Liebermann. Ein wunderschönes Pferd auf blauem Grund erinnert an eine berühmte Ölskizze Vincent van Goghs im Amsterdamer Van Gogh Museum; es feiert Schönheit und Freiheit zugleich. Die Malerin imaginiert auf 33 kleinen Tafeln an den Galeriewänden diese eleganten, kapriziösen oder mächtigen, derben, schwere Lasten ziehenden Tiere – farbig, kreatürlich, in Blau, Grün, Rot, Gelb, Orange, Braun. Fast so, als hätte der Maler des verschollenen „Turms der blauen Pferde“, Franz Marc, sie dazu ermuntert.
Es ist unübersehbar – Valérie Favre mag Pferde, von denen es 200 unterschiedliche Rassen auf der Erde geben soll und von denen, daran will sie auch explizit erinnern, in den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts Millionen zu Kanonenfutter wurden – wie die Reiter. Ihre Malerei habe keine Botschaft, betont Favre, und sie wird doch selbst am besten wissen, dass man gerade in ihren rätselhaften, sogartigen Motiven besonders intensiv danach sucht. Mit lustvollem Kalkül legt sie es darauf an, uns Betrachter zu verwirren, unser „inneres Auge“ zu aktivieren.

Auf einem der wenigen größeren Formate blickt ein Pferd uns hinter den Gitterstäben seiner Box an, unverwandt, die Ohren gespitzt. Fast unheimlich ist dieser Anblick, denn die Malerin meint damit weit mehr als nur konkret die Pferde. Es geht um die Kreatur schlechthin. So, als würde sie in dieser ganzen Bilderserie, in der sich ein langer malerischer Prozess von Figürlichkeit bis Abstraktion, von einer heilen bis zur verzerrten, malträtieren Form spiegelt, anmahnen, dass man ein galoppierendes Pferd nicht schlagen darf.
Was im übertragenen Sinne heißt, dass wir Menschen die Tierwelt, die ganze kostbare Natur auf unserem blauen Planten nicht überstrapazieren, misshandeln dürfen, ohne dass wir es schwer bereuen müssten. Diese Wesen, die uns Menschen arglos, ängstlich oder neugierig anblicken, scheinen wohl um unsere Achtlosigkeit zu wissen, um unsere Gier, unsere Gleichgültigkeit, die schließlich auf die Menschheit in einer ausgebeuteten, zerstörten Natur selbst zurückfallen. Noch ist Zeit, innezuhalten, umzukehren.
So gesehen ist der Titel „Unpolitische Werke“ auch eine für Valérie Favres Malerei typische Irritation. Sie weckt mit ihren Bildern der vermeintlich völlig unpolitischen Pferde jene hybriden Unruhegeister, die wir, die moderne Spezies Homo sapiens, mit unserem maßlosen Tun und Trachten nur schwerlich wieder zurücksperren können. In jene Ecke, wo des Zaubermeisters Besen stand.
Galerie Barbara Thumm, Markgrafenstraße 68 (Kreuzberg). Bis 15. April, Di–Sa 11–18 Uhr.