Mao und die Börse von Singapur

Mit „Balance“ bespielt der Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart seine sanierte Kleihueshalle vor allem mit Werken aus der Sammlung Marx.

Prangt von der Stirnseite der Kleihueshalle: Andy Warhols Siebdruck, Acrylfarbe auf Leinwand, 1973.
Prangt von der Stirnseite der Kleihueshalle: Andy Warhols Siebdruck, Acrylfarbe auf Leinwand, 1973.bpk/Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, SMB, Sammlung Marx/Jochen Littkemann

Wie leicht ein System durch die Verschiebung von Kräften aus dem Gleichgewicht zu bringen ist, erleben wir gerade mitunter schmerzhaft im Blick auf Putins Invasion in der Ukraine und in der Folge in vielen Bereichen des Alltags. Gewissheiten geraten ins Wanken, der Zustand von Balance ist oft kurz wie der berühmte Schmetterlingsflügelschlag und bedeutet eine Gratwanderung zwischen Glücken und Misslingen.

Wird die labile Situation virtuos beherrscht, erscheint das Ideal des Schwerelosen hingegen greifbar, gerät sie ins Schwanken, folgt schnell der Fall. Dazu hat man sich im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, dessen Existenz soeben, nach langen Verhandlungen mit der Grundstücksbesitzrein CA Immo Deutschland für  die nächsten 25 Jahre gesichert ist, Gedanken gemacht und zur Wiedereröffnung der Kleihueshalle nach umfänglicher Sanierung eine Ausstellung namens „Balance“ eingerichtet. Mit starken Bildern darüber, wie man das Gleichgewicht findet, behält oder verliert. Der entspannenden Situation  für die Zukunft des Hauses angemessen, ist das nun beinahe ein Gleichnis.

Ulrike Rosenbach: „Tanz für eine Frau/Dance for One Woman“, Videostill,  1974
Ulrike Rosenbach: „Tanz für eine Frau/Dance for One Woman“, Videostill, 1974VG Bild-Kunst, Bonn 2022/Ulrike Rosenbach

Es ist nicht neu, was hier zu sehen ist, aber anders und: eine schöne Herausforderung. Den Auftakt macht noch vor den Türen zur Ausstellungshalle eine tanzende Frau in einem Video von Ulrike Rosenbach. Zu den Walzerklängen von „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“ wirbelt und wirbelt sie im Kreis herum. Allein und ohne Tanzpartner. So lange, bis sie, gerade noch schwerelos, in sich zusammensackt. Gegenüber richtet Anselm Kiefers Skulptur „Schechina“, ein von Glasscherben durchbohrtes Brautkleid aus Gips, das dem hebräischen Titel nach von der Anwesenheit Gottes in der Welt erzählt, den Blick wiederum auf die Fragilität dieses Zustands.

In fünf Kapiteln wird das Thema Balance reflektiert. Kuratorin Nina Schallenberg hat dafür 39 Arbeiten zusammengestellt – größtenteils aus der Sammlung Marx, deren Dauerleihgaben seit 1996 den Grundstock des Hamburger Bahnhofs bilden, und mit Schwerpunkt ab den späten 1960er-Jahren, in denen sich die Koordinaten in vielen gesellschaftlichen Bereichen massiv verschoben haben. So lehnen da abenteuerlich schräg gegeneinander die zwei Teile einer halbierten Säule von Inge Mahn gerade noch so im Gleichgewicht.

Und die in Acryl auf Leinwand gemalten Kreise von Ugo Rondinone flirren dermaßen vor den Augen, dass man nicht mehr weiß, wo oben, unten oder gar die Mitte ist. Balance – körperlich und sinnlich erfahrbar, und eben künstlerisch. Wenn in einem ansonsten perfekt geometrischen Gemälde von Imi Knöbel eines der Quadrate in Schieflage gerät, oder in einem Bild von Cy Twombly in Bleistift und Öl ein Durcheinander von Farbe und Form changiert und zugleich das Gegen- und das Gleichgewicht der Werke zueinander im Raum hinterfragt werden, dann trifft das Thema auf die Minimal Art.

Fiona Tan, in Amsterdam lebende Indonesierin, filmte 2003 diese dramatische Video-Metapher für die Urkräfte der Natur und die Balance suchenden Segler auf dem Meer.
Fiona Tan, in Amsterdam lebende Indonesierin, filmte 2003 diese dramatische Video-Metapher für die Urkräfte der Natur und die Balance suchenden Segler auf dem Meer.Courtesy Fiona Tan and Frith Street Gallery, London

Ohne plakativ politisch zu sein, geht es auch um das Ringen um Balance in einer teils aus den Fugen geratenen Welt. Es geht um ökonomisches und ökologisches Gleichgewicht und um das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Und ohne zu belehren, wird klar, dass es ein Prozess ist, die richtige Balance zu finden. Was die Kunst betrifft, aber auch die Menschen überhaupt. Und weil man „Balance“ aus dem Englischen auch mit „Bilanz“ übersetzen kann, blicken wir in einem großformatigen Foto von Andreas Gursky auf das Parkett der Börse von Singapur. Dieses Sinnbild des Kapitals trifft hier auf eine Symbolfigur des Kommunismus.

Denn als monumentaler Schlusspunkt schaut Mao vom Ende der Halle aus auf uns hernieder. Von Andy Warhol als Pop-Ikone in Szene gesetzt, hängt er dort, und rechts vor Maos Konterfei, fast zu übersehen, steht eine kleine Spieldose auf einem Sockel. Dreht man an der Kurbel, hört man ganz leise die „Internationale“. Eigentlich ein ganz ironiefreies Gegengewicht zum übergroßen Revolutionsführer Mao steht diese Variation des Arbeiterkampfliedes für die erfrischende, eigenwillige Suche nach Balance.

Balance Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Invalidenstraße 50/51,  Di.–Fr. 1018/Sa. + So. 1118 Uhr. Bis 9. Oktober