Hansgert Lambers „Verweilter Augenblick“: Momente aus einer verschwindenden Welt

Hansgert Lambers fotografierte zugewandt, und ohne zu denunzieren, Menschen in den Städten Europas. Fast nebenbei entstand dabei ein philosophisches Lebenswerk.

1975 Berlin-Kreuzberg, an der Friedrichstraße
1975 Berlin-Kreuzberg, an der FriedrichstraßeHansgert Lambers

Im Haus am Kleistpark ist im Moment eine Retrospektive des Lebenswerks von Hansgert Lambers zu sehen. Der eher als Verleger denn als Fotograf bekannte gebürtige Hannoveraner (1937) fotografierte in vielen großen Städten Europas – vor allem aber in West-Berlin – Straßenszenen, Menschen, Gebäude und Spuren menschlichen Lebens. Die Ausstellung im Haus am Kleistpark zeigt ein Berlin, das bereits verschwunden ist – oder dabei ist zu verschwinden –, und dokumentiert auf einfühlsame Weise bezeichnende Momente für das Leben in der einst geteilten Stadt.

Lambers fotografierte aber auch Freunde und Bekannte: „Eigentlich fotografierte er immer und überall“, erzählt der „Verweilter Augenblick“-Kurator und Fotograf Matthias Reichelt. Betritt man die Ausstellungsräume, finden sich Lambers’ Porträts privater Bekanntschaften und Freunde ganz links. Formlos hängen sie ungerahmt an dünnen Nägeln an der weißen Wand, als wären sie auf die Seiten eines Fotoalbums geklebt worden, das man gerade bei Lambers zu Hause aus einem Regal gezogen hat. Der einzige Unterschied zu den gewöhnlichen privaten Fotoalben wäre hier, dass es sich bei den Bildern um großartige Aufnahmen  handelt, oft von bekannten Personen. So hängt hier zum Beispiel auch der Schauspieler Adrien Brody mit seiner Mutter Sylvia Plachy, einer ungarischen Fotografin. Auch der berühmte DDR-Fotograf Arno Fischer ist zu sehen.

Ein verschwindendes Berlin, fremd und bekannt zugleich

Viele der abgelichteten Menschen in diesem Raum – diesen Eindruck gewinnt man beim Betrachten der Aufnahmen – waren Lambers’ Freunde. Vielleicht meint Reichelt das, wenn er sagt, man erkenne in den Porträts „eine menschliche Nähe und Vertrautheit zu einer aussterbenden Kultur- und Kunstszene“.

Charlottenburg, West-Berlin, 1977
Charlottenburg, West-Berlin, 1977Hansgert Lambers

Die übrigen drei Ausstellungsräume zeigen Straßen- und Stadtaufnahmen aus den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart. Ob Kohlekumpel, die in den frühen 60er-Jahren nach getaner Arbeit ein Bier in der Eckkneipe trinken – oder ein alter Mann, der ein paar Jahre zuvor die von Bombeneinschlägen lückenhafte Crellestraße in Schöneberg entlangläuft: Lambers lichtet all diese Momente mit einer Sensibilität ab, die einen kaum wegschauen lässt. Die Menschen, die Lambers fotografiert, scheinen oft etwas überrascht von der Kamera. Die Bilder wirken dadurch authentisch, auch weil Lambers’ Fotos ein verschwindendes Berlin zeigen, das einem fremd und zugleich bekannt vorkommt.

Feingefühl für bedeutungsvolle Alltagsmomente

Oft reißen einen die Details am Rande der Fotos aus einer rein ästhetischen Betrachtung und verleihen ihnen eine philosophische Komponente. So bleibt man fast unweigerlich vor der Aufnahme eines langhaarigen Jungen stehen, der 1977 seinen Fußball einen Charlottenburger Bürgersteig entlangschießt. Der Junge ist allein und wird dem Ball wohl weit hinterherlaufen müssen. Eine Stimmung von Frust und Einsamkeit liegen in dieser messerscharfen Momentaufnahme. Ein einzelnes Fenster in einer schier endlosen Hausfassade dahinter konkretisiert das Gefühlsgemisch von Melancholie und Neugier, das Lambers’ Fotos oft auslösen – wenn man sich die Zeit nimmt, sie sich genauer anzusehen.

Bologna, 1984
Bologna, 1984Hansgert Lambers

Ein 1984 in Bologna aufgenommenes Foto einer jungen Frau, die sich auf dem Fahrrad umdreht und die Straße hinunterblickt, ist ein weiteres Beispiel für das Feingefühl, mit dem Lambers Alltagsmomente einfängt. Im Haus am Kleistpark blickt die Frau aus dem rechten Ausstellungsraum über ihre Schulter in die Vergangenheit, auf eine teils verschwundene Welt: in Richtung von Lambers’ Fotos aus den 50er-Jahren.

Fotos aus sieben Jahrzehnten in einer Ausstellung

Der Verleger und Fotograf konnte sich über die in seinem Verlag „ex pose“ erschienenen Fotobände übrigens nie finanzieren. Geschweige denn über die eigenen Fotografien, die er nur zu Teilen verlegte und oft gar nicht veröffentlichte. Lambers arbeitete bis zur Rente bei der Computerfirma IBM in der Datenverarbeitung. Es war sein Brotjob, mit dem er seine große – aber nicht zuletzt auch wegen seiner Bescheidenheit unprofitable – Leidenschaft finanzierte. Zeitlebens nahm Lambers keinen einzigen Fotoauftrag an und fotografierte ausschließlich in der Freizeit. Auch „ex pose“, wo er Bände anderer Fotografen verlegte, baute er in seiner freien Zeit auf.

Wien, 2017
Wien, 2017Hansgert Lambers

Hansgert Lambers habe mit seinen Fotos nie denunziert, sagt Matthias Reichhelt, „er war ein echter Philanthrop, der menschenzugewandt fotografierte.“ Das merkt man auch sofort, wenn man sich das Video ansieht, dass in den Ausstellungsräumen gezeigt wird, ein Interview mit Lambers. „Ich bin immer ein Amateur geblieben, ein Liebhaber der Fotografie.“ Der bescheidene wie geniale Lambers erzählt hier lächelnd, freundlich und unprätentiös, wie er mit 14 Jahren mit einer Leica-Kamera seine Leidenschaft entdeckte und bis heute nicht damit gebrochen hat.

Sieben Jahrzehnte stecken in seinen Fotos. Und seinen Humor hat er ebenfalls nicht eingebüßt: Auf einem Foto von 2017 in Wien sind unfreiwillig komische Touristen mit Fahrradhelmen auf Segways zu sehen. Die meisten von ihnen steuern nicht auf das Art-Forum zu, das rechts im Bild zu sehen ist, sondern in die Richtung eines Lokals namens Bieradies.

Die Retrospektive „Verweilter Augenblick“  ist vom 10.6. bis zum 7.8.2022 im Haus am Kleistpark zu sehen. Infos unter: www.hausamkleistpark.de/exhibitions/verweilter-augenblick-hansgert-lambers 
Zur Ausstellung ist eine gleichnamige Monografie erschienen, die in den Ausstellungsräumen erworben werden kann.