Helgas Flower-Power

Blumenfahrrad, Stickbilder, Obszönitäten: Das Stadtmuseum erinnert an die Berliner Kunst&Sex-Aktivistin Helga Goetze.

Helga Goetze: Ein gesticktes Selbstporträt als „Weiblicher Buddha, Gaja, die Erdmutter“, 1983
Helga Goetze: Ein gesticktes Selbstporträt als „Weiblicher Buddha, Gaja, die Erdmutter“, 1983Stadtmuseum Berlin

Noch rückwirkend würde ich mein geliebtes Hollandfahrrad darauf verwetten, dass die DDR-Grenzer die Frau mit dem bunten Kopftuch vorm Mauerfall niemals über die Grenze in den Osten gelassen hätten. Nicht mit ihrem Blumenrad, den obszönen Stickbildern von diversen Sex-Stellungen. Und vor allem nicht mit dem Pappschild, auf dem sie verdatterte Passanten zum „Ficken für den Frieden“ aufforderte.

Doch als Ulbrichts Betonwall weg war, wechselte die in West-Berlin als Unikum und Störfall bekannte, ausgerechnet von der Regenbogenpresse weidlich beschimpfte, bereits auf die Siebzig zugehende Flower-Power-Aktivistin Helga Goetze ihren angestammten Aktionsort: von der Gedächtniskirche und von der Mensa der TU zum Lustgarten auf der Museumsinsel. Sie erschloss sich den Osten als neues Podium für ihre irritierend-provokanten Auftritte. Dabei saß sie nur so da, verteilte freundlich Flyer und warb mit plötzlich herausgestoßenen Worten wie aus Pornofilmen für die freie Liebe, die sexuelle Befreiung der Frau und den damit zu erringenden Weltfrieden.

Sie hatte offensichtlich Spaß daran, dass den Leuten bei der offensiven Begegnung die Schamröte ins Gesicht stieg. Und wer nicht aufgeklärt wurde, und dazu zählten auch die ahnungslosen Touristen, hielt Helgas Flower-Power-Attitüde für total durchgeknallt. Viele attestierten ihr das Tourettesyndrom. Manche blieben interessiert stehen, andere flüchteten peinlich berührt.

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Das Unikum Helga Goetze (1922–2008) bei einer „Mahnwache“ am Breitscheidplatz, 1996
Das Unikum Helga Goetze (1922–2008) bei einer „Mahnwache“ am Breitscheidplatz, 1996Stadtmuseum Berlin

Bis 2002 sah man Helga Goetze, Jahrgang 1922, noch am Breitscheidplatz bei ihren „Mahnwachen“  fürs Liebe-Machen. 2008 starb sie. Ihre sieben Kinder, der die „vulgären“ Auftritte der Mutter lange Zeit so peinlich waren, beerdigten sie würdig auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof Schöneberg und gründeten aus dem aus 600 Objekten, darunter 280 Stickbilder und Gedichte, bestehenden Nachlass der häufig Verspotteten, aber auch mild Geduldeten eine Stiftung, die heute als wichtiger Baustein der Berliner Frauenemanzipation gilt und  Einblick gibt in die Diversität der Berliner Subkultur. Derweil wird Goetze wegen ihrer Kunst&Sex-Philosophie sogar mit der gefeierten amerikanischen Künstlerin Dorothy Iannone verglichen. Das Art-Brut-Museum Lausanne kaufte Stickbilder an.

Das Stadtmuseum widmet der Sex-Aktivistin eine Matinee zum 100. Geburtstag. Was zu ihren Lebzeiten bizarr und in der Öffentlichkeit misfit wirkte – ihre explizite Sprache sowie ihr Anspruch, auch als alternde Frau ein Recht auf Liebe und freie Sexualität zu haben –, hat sich eine neue Generation von Feministinnen inzwischen längst zu eigen gemacht.

Matinee, Märkisches Museum, Am Köllnischen Park 5 , Sa., 12. März, 11 Uhr