In Mona Hatoums Paradies und Hölle ist „alles ein Zittern“
Seit der Documenta 1997 zählt Mona Hatoum zu den wichtigsten Künstlerinnen der Welt. Auch das Kesselhaus der einstigen Neuköllner Kindl-Brauerei ist Kulisse.

Soeben noch stand Mona Hatoums Metallgestänge steif und starr, wie ein unbezwingbarer Käfigbau, fast neun Meter hochgereckt zur Hallendecke. Doch nun, ganz allmählich, wie von bösen Mächten manipuliert, gerät das Gerüst bedrohlich aus der Balance. Erst knicken die unteren Strukturen ein, als wollten die Beine eines Körpers nicht mehr gehorchen. Dann folgen die oberen. Alles kippt, macht monströse Geräusche, die Scharniere der Stangen knacken und schnappen. Und auf einmal – schon glaubt man, das Skelett stürze ein – richtet sich alles wieder auf, steht wieder als stählernes Raster: Starr wie Machtstrukturen, Gesetze, Grenzen, Religionen, Ideologien, Normierungen.

Mit dieser surrealen kinetischen Skulptur erzählt die Künstlerin ein Gleichnis. Das ihres bisherigen 70-jährigen Lebens, das unzähliger anderer Menschen auf dieser Welt, die geflohen sind vom Ort ihrer Geburt, ihrer Kindheit. „All of a quiver“ („alles ein Zittern“) nennt Mona Hatoum dieses Gebilde von subtiler Instabilität. Für die Ausstellungskuratorin Kathrin Becker verweist die Skulptur „auf die Umwälzungen der Gegenwart und auf unsere prekäre und fragile Existenz, eine Art Zeuge des Zusammenbruchs der vorherrschenden Systeme und der Versuche der Erneuerung und Rekonstruktion …“
Mona Hatoum formuliert es simpler: Ihre Kunst soll übers Intellektuelle hinaus Emotionen wecken, sich einmischen. Nicht verbissen, nicht aggressiv, nicht rechthaberisch, eher mit einer Mischung aus Humor und Ernst, aus Drastik und Poesie. Sie will die Gleichgültigen aufstören. Genau darum wurde sie schon 1997 zur zehnten Documenta eingeladen. 2010 bekam sie in Berlin den Käthe-Kollwitz-Preis, und sie wurde in die Akademie der Künste berufen. 2019 verlieh man ihr in Tokio den Praemium Imperiale „für ihren außergewöhnlichen Beitrag zur skulpturalen Kunst der Gegenwart“.

Soeben war die Berlin Art Week Anlass, Hatoum die bislang größte Retrospektive zu widmen. Und das gleich an drei Orten: im Kindl-Zentrum, im Neuen Berliner Kunstverein und im Kolbe Museum. Man läuft quasi ihr bisheriges Lebenswerk ab, eines, das von Angst und Überwindung, von Desillusion und Hoffnung erzählt. Und von Verlust sowie Gewinn in vier Jahrzehnten, ausgehend von London quer durch Westeuropa, in Mexiko-City, Caracas, Ramallah. Auch in Jerusalem. So entstand immer Kunst, die sich auf den Ort bezieht. Dieses Wechselhafte, Unstete, „da, wo nichts perfekt, sondern eher primitiv und mühsam ist“, gab für sie „die meiste Inspiration und Antrieb“.
Geht es also auch um Heimat? „Nein“, sagt sie, „ich habe keine romantische Sehnsucht nach einer bestimmten Heimat. Wo ich arbeite, da ist Zuhause.“ Heimat? Beirut war es nicht geworden. Mona Hatoum ist die Tochter eines aus Haifa in den Libanon ausgewanderten palästinensischen Christenpaares. Doch sie verließ Beirut Mitte der 70er-Jahre, enttäuscht von dem Land, in dem sie und ihre Familie immer die Fremden blieben. Sie wählte London als Zuflucht. Dort studierte sie, gestaltete auf den Straßen der Stadt politische Aktionen. Eine hieß „Über meine Leiche“. Auslöser war das Massaker an tausend palästinensischen Flüchtlingen in den Camps von Sabra und Schatila. Bis 1990 herrschte Bürgerkrieg im Libanon, Moslems auch gegen Christen.

Machtlos musste Hatoum erleben, wie diese Grausamkeit niemanden in England interessierte. Ein anderes Mal steckte sie sich selbst in einen Leichensack, bedeckt mit Blut und Gedärmen und spielte Radioberichte über den Krieg zwischen Israel und Libanon ab. „Ich hatte Angst um meine Eltern. Damals war meine Kunst noch ganz autobiografisch, alles, was ich tat, klebte am Schicksal meiner Familie“, erzählt sie. „Aber ich wollte eine universale Perspektive.“
Nach Berlin kam sie 2003 mit einem daad-Stipendium. Sie kehrte nicht mehr zurück nach Beirut. Die Exilfalle war abermals zugeschnappt. Die Eltern starben, die Schwester floh in die USA. Hatoum blieb in London, lernte ihren Mann kennen, einen Musiker. Bald stellte sich der Erfolg ein. Sie traf den Zeitnerv mit ihren Skulpturen, Installationen, den Landkarten, die Flucht, Vertreibung, Emanzipation zum Thema haben. Heute ist ihre Kunst universal. Sie zeigt die Welt als Patchwork von Paradies und Hölle. Ihr eigenes Schicksal ist nur ein Teilchen im großen Puzzle von Fortschritt und Rückschnitt, von Hass und Liebe, Verständnis und Gleichgültigkeit in der Welt.
Im Kolbe Museum lagert eine Steinkugel auf dem Boden: „Inside Out“. Die Oberfläche des „Planeten“ ist überzogen von Hirnmasse-Formen. Im Neuen Berliner Kunstverein lagert ein Globus aus Metallgittern, die Kontinente durch blutrote Leuchtstoffröhren markiert. Überdeutlich zu sehen ist Afrika – ein bedrohter Lebensraum.

Und auch das ist unverkennbar Mona Hatoum: Sie macht ein Asyl mit dürftigen Möbeln, Schlafsack, Koffer, Wäscheleine, Kinderstühlchen zum Symbol für das provisorische Elend. Und sie setzt Küchengeräte unter Strom, schirmt die Szene ab durch surrende elektrische Sperrdrähte. Wie Weidezäune? Schlimmer: wie Gefängnisse. Solche, wo in patriarchalischen Systemen die Frauen leben müssen: Kinder, Küche, Kirche.
Mona Hatoum ist Meisterin des subtilen, irritierenden Spiels mit Widersprüchen und der Andeutung latenter Gefahren. So einfach ihre Formensprache ist, so deutlich hat diese reduzierte und zugleich rabiate Ästhetik eine klare politische Botschaft mit enormer Körperlichkeit. Wir Betrachtenden spüren das Unbehagen angesichts des prekären Zustandes unserer Erde, der Natur, der Lebewesen und des gestörten, fast schon kaputten gesellschaftlichen Gefüges.

Vermitteln die skulpturalen Raum-Installationen einerseits Stabilität und Ordnung, so deuten sie andererseits auch die Gefahr eines unvermittelten Zusammenbruches an. Und genau das ist das einem ins Mark dringende Verstörende an Mona Hatoums Kunst, das zugleich Verstand und Seele trifft. Es ist eine Gratwanderung zwischen alltäglich Vertrautem und Erschrecken, zwischen Schönheit und Schock.
Die drei Hatoum-Ausstellungen: Kunstzentrum Kindl, Neukölln, Kesselhaus, bis 14. Mai. Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.) Chausseestr. 128/129, bis 13. November. Kolbe Museum, Sensburger Allee 25, bis 8. Januar. Kuratoren der Kooperation: Kathrin Becker, Marius Babias, Julia Wallner.