Missbrauch in Acrylwolle: Patricia Wallers Kunst über Kinder aus dem „Verlorenen Paradies“
In der Berliner Galerie Deschler sehen wir, dass eine Bildhauerin ihre Skulpturen auch häkeln kann. So zärtlich und doch brutal, dass es einen ziemlich anfasst.

Zum selben Zeitpunkt, als Papst Franziskus letzte Woche auf seiner Kanada-Reise Überlebende und Nachkommen der Ureinwohner um Verzeihung bat für die erlittene Gewalt, den sexuellen Missbrauch durch katholische Missionare und Priester in den Internaten ihrer Zöglinge, eröffnete Patricia Waller ihre Ausstellung in der Galerie Deschler. Mag das zeitliche Zusammentreffen nur Zufall sein – die Wirkung ist denkwürdig.
In den Ecken des Galerieraums kauern kleine Kindergestalten, hellhaarig, dunkelhaarig, liebevoll gehäkelt aus farbiger Wolle, mit aufgen��htem Haarschopf und fein genähten Schuhchen. Niedlich aber sind diese Figürchen nicht. Ein „Ach, wie süß!“ zu sagen, das wäre zynisch. Ihre „Victims“ (Opfer) brauchen Schutz, denn wie man sieht, wenden sie sich ab. Ängstlich, abwehrend verstecken sie ihre Gesichter hinter den kleinen Händen.
Unsichtbar steht in diesem Raum ein Thema, das leider heute noch gegenwärtig ist: häusliche Gewalt, Isolation gerade während der beiden Corona-Jahre mit den Lockdowns, Vernachlässigung, Verwahrlosung derer, die doch das Kostbarste sind, was man haben kann – Kinder. Ihr fröhliches Lachen, ihre Fragen, ihre unverstellte Kreativität und ihre Träume. Unverzeihlich ist die Gleichgültigkeit ihnen gegenüber seitens derer, die meinen, das Schicksal fremder Kinder gehe sie nichts an, es sei allein Privatsache. Oder im Umkehrschluss Angelegenheit der staatlichen Behörden.

Ein paar Schritte weiter nach hinten ist der Anblick schockierend unverhohlen: Ein kleines Kerlchen steht mit dem Kopf zur Wand, die Hosen heruntergelassen, angstvoll abwartend, was jetzt passiert. Schläge? Noch Schlimmeres? Waller nennt die Figur „Sunday“. Sie gehört in die Werkreihe „Innocent“ (Unschuldig). Als gewalttätige Drohung, übergroß, steht neben dem Kind ein goldener Krummstab, der Hirtenstab, Symbol der Pontifikalen, Bischöfe und Kardinäle – bestehend aus Schaft und Krümme am oberen Ende. Hier an der Galeriewand, in dieser Konstellation zu dem hilflosen Kind, wird die Insignie katholischer Würdenträger zum Zeichen des Missbrauchs, des Hohns der christlichen Nächstenliebe.
Harte Missbrauchs-Szenen in Acrylwolle gehäkelt
Patricia Waller hat aus weicher Acrylwolle solch harte Szenen gehäkelt. In ihrer Ausstellung „Paradise Lost“ gibt es nicht mehr jene satirische Brechung, den amüsanten schwarzen Humor früherer Häkel-Skulpturen, mit denen die gebürtige Chilenin menschliche Schwächen, Marotten und Kuriositäten auf die Schippe nahm – und öfter auch den Horror, den wir Betrachter in zurückliegenden Ausstellungen mit wohligem Schauder goutierten.
Diesmal ist alles bitterer, drastischer Ernst: Der krasse Gegensatz von heimeliger Häkelarbeit und verstörendem Inhalt knallt einem förmlich aufs Auge und sticht in die Herzgegend. Es ist die Angst der Kinder, das Ausgesetzt-Sein der Wehrlosen, wo auch immer auf der Welt, in Krisen- und Kriegsregionen, in schlimmen Milieus, in Armutsgebieten und umweltzerstörten Gegenden. Oder in den waffenstrotzenden USA, wo Schulmassaker an der Tagesordnung sind und mit pathetischen Trauerreden verlogen bedacht, aber die lockeren Waffengesetzte nicht angetastet werden.
Im hinteren Raum sitzen gehäkelte Kindergestalten in bunter Kleidung auf einem Dreirad und einem Rollbrett. Eine hat keine Arme mehr, die andere keine Beine. Ein Baby liegt erschossen in seinem Stecktuch. Sofort geht hier das Kopfkino an. Wir kennen solche Szenen aus den Medien spätestens seit 2011. Syriens Diktator Assad ließ von mit Putins Hilfe sein eigenes Volk töten und vertreiben; Kinder kamen zu Tausenden um oder verloren durch Explosionen und Minen ihre Gliedmaßen.

Im Krieg sei es vorbei mit „heile Welt“, sag Patricia Waller. Es lasse sich nichts mehr beschönigen. Sie fühlt sich erinnert an die alte Heimat, als sie, 1962 in Santiago de Chile geboren, ein kleines Mädchen war. Ihre Kindheit dort sei schön gewesen, sagt sie. Ihre deutschen Eltern gingen mit ihr 1968 nach Deutschland zurück, als der Arbeitsvertrag des Vaters endete. Später, 1973, kamen aus Chile schlimme Nachrichten: Pinochets Militär-Junta hatte maßgeblich den von den USA geförderten Militärputsch gegen den demokratisch gewählten marxistisch-sozialistischen Präsidenten Salvador Allende gemacht. In der Folge töteten die Schergen auch Kinder oder entrissen sie ihren Eltern. Die katholische Kirche schwieg dazu zunächst, ehe zumindest endlich erste kritische Stimmen laut wurden.
Mahnungen eines „Nie wieder!“ verhallten
Waller hörte später in ihrem Künstlerinnenleben von Migranten und traumatisierten Menschen, die nicht über ihre Kriegserfahrungen und auch nicht über die Gewalt reden konnten, die sie als Kinder erdulden mussten. Die Überlebenden waren und sind zeitlebens geprägt. Dass alle Mahnungen eines „Nie wieder!“ immer verhallen und das menschliche Gewaltpotenzial allen ach so wunderbaren Errungenschaften unserer fortschrittlichen Zivilisation trotzt, ist für die Künstlerin „zutiefst bestürzend“.
Sie selbst studierte an der Kunstakademie Karlsruhe Bildhauerei, doch die üblichen Materialien – Stein, Holz, Metall, Polyester – reizten sie nicht. Umso mehr Wollknäuel und Häkelnadeln. Alles wird gehäkelt: Schönes, Hässliches, Gutes, Böses, Kitschiges, Anspruchsvolles. Viele Künstler auf dieser Welt brachten und bringen für ihre Kunst Opfer, auch körperliche. Die Kunstgeschichte weiß ein Lied davon zu singen: Steinbildhauer, Kapellen- und Freskenmaler, nehmen wir nur Michelangelo, hatten noch keine Physiotherapeuten, um sich die verspannten Rücken und Genick-Regionen massieren zu lassen. Auch Waller strapaziert seit Jahren ihren Rücken für ihre Häkel-Kunst und wich zur Entspannung ein wenig aus: Sie stickte eine Zeit lang mit hell-dunklen Pailletten sarkastische Kopfschuss-Relief-Bilder auf Styropor, bei denen wieder mal ihre Selbstironie und ihr schwarzer Humor durchschlugen. Sie gab ihnen einen sarkastischen Titel: „Suicide“.
Ganz bewusst macht sie seit vielen Jahren das triviale Häkeln, die weiblich konnotierte, als Hausfrauenhobby belächelte Kulturtechnik der Maschen-Reihen zu ihrem Markenzeichen. Mit feministischer Verve und Tiefgang, damit als Schwester im Geiste einer Nadel-und-Faden-Berühmtheit wie Louise Bourgeois oder der gefeierten deutschen Strick-Künstlerin Rosemarie Trockel, häkelt Patricia Waller ihre ästhetischen wie gesellschaftspolitischen Statements. Unbeirrt, auch wenn oder gerade weil der geschmäcklerische Kunstbetrieb das nicht einschlürft wie Champagner.
Galerie Deschler, Auguststr. 61. Bis 24. September, Di.–Fr. 11–18/Sa. 12–18 Uhr
