Ostberlin vorm Mauerfall: Weggehen oder bleiben?
Die Malerin Sabine Herrmann zeigt in der Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank inmitten der Werke von 56 anderen „Ostlern“ ihr melancholisches Schlüsselbild „weggehen“.

Vor der Kulisse eines lodernden Brandes, dessen Qualm eine seltsame Vogelgestalt bildet, schleicht sich ein junger Mann mit unkenntlichen Gesichtszügen, im derben Mantel, den Kragen hochgeschlagen, mit seinem Rucksack weg aus der dramatischen Szenerie. Er wendet dem Geschehen den Rücken zu. Man meint, einen Pinsel in seiner rechten Hand zu sehen. Die Gestalt lässt eine ungerade weiße Grenzlinie – die Berlin zerschneidende Mauer – hinter sich. Irgendwie muss ich an Prometheus denken, der den Menschen das Feuer brachte, den Urheber der menschlichen Zivilisation also, und den, so der antike Mythos, die Götter dafür bestraften.
Er verlässt die brennende Bühne der „Menschlichen Komödie/Tragödie“ im Sinne der griechischen Mythologie. Jedoch nicht ans Atlasgebirge geschmiedet und nicht mit einer vom Adler herausgepickten Leber. Hier wird die Legende weit banaler erzählt: Dieser Antiheld verlässt Ost-Berlin und die DDR enttäuscht, verbittert, zwiegespalten. Und auch ziemlich ratlos: Wer bitte, wartet im Westen, in der Hemisphäre der abstrakten Kunst, auf einen jungen Maler, der figürlich arbeitet?
Sabine Herrmann, geboren 1961 in Meißen, aufgewachsen in Berlin, ausgebildet erst an der Dresdner Kunstakademie, dann an der Kunsthochschule Weißensee, hat das Bild im Sommer 1989 gemalt, damals, als die jungen Leute massenhaft das Land via Ungarn verließen. Die Malerin ist eine Dagebliebene. Eine, die den Fall der Mauer am 9. November von Prenzlauer Berg aus erlebte, im Kreis vieler Christen, die wie sie in den Kirchengruppen für mehr Freiheit und Demokratie eintraten. Sie erzählt, dass Weggehen für sie keine Option gewesen wäre. „Ich war sehr traurig, so viele Freunde verloren zu haben. Aber ich wollte hier wirken, es war und ist mein Wurzelgrund.“
Sabine Herrmanns melancholischer Weggehender ist ein universales Symbol. Für den Verlust der Freunde und Kollegen damals, die jetzt, in dieser Ausstellung, wieder zusammentreffen. Und nicht zuletzt für das, was die aus den Fugen geratene Welt heute wieder vor Augen hat: Unfreiwillig Fliehende, die ihre Heimat unter Druck verlassen, weil sie dort nicht mehr leben können.
„Aufbrüche. Abbrüche. Umbrüche. Kunst in Ost-Berlin 1985-1995“ heißt die Ausstellung der Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank. Der Titel klingt wie ein Hammerschlag gegen die Betonmauer von einst. Und ist zugleich der Einstieg in eine Zeitkapsel. Die vor 37 Jahren gegründete Stiftung kaufte schon früh Kunst aus der ehemaligen DDR an. Nun breitet sie, zusammen mit der Stiftung Stadtmuseum, die Werke von 57 Künstlerinnen und Künstlern aus dem Osten aus. Es sind Bilder und Skulpturen, welche eine lebendige und vielfältige Ost-Berliner Kunstszene der Vor- und Nachwendezeit belegen. Die Ausstellung ist an drei Orten zu sehen: in der Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank sowie später in der Nikolaikirche und im Ephraim-Palais.
Sabine Herrmanns Gemälde „weggehen“ ist der Prolog. Die Stiftung Kunstforum hat das Schlüsselmotiv gerade angekauft. Es vereint die thematische Gemengelage jener turbulenten Jahre zwischen Aufbruch, Abbruch und Umbruch. Damals begann der Anfang vom Ende. Es rumorte in dem kleinen Land zwischen Kap Arkona und Fichtelberg. Der Druck in der Enge führte zur explosiven Entladung. Ausreisen Richtung Westen waren längst an der Tagesordnung. Dann folgte die Fluchtwelle. Schließlich fiel die Mauer. Aus bitteren Geschichten vieler Künstler-Emigranten ist uns überliefert, dass aus Weggegangenen am Ende Nie-Angekommene werden.

Herrmanns Figur ist dafür Metapher. Das Feuer im Hintergrund, das sind die verbrennenden Ideale und Visionen, verraten von einer Politikerkaste, die in ihren eigenen hirnverbrannten Dogmen untergeht und ein ganzes Volk mit in den Untergang reißt. Und der Weggegangene, das sieht man sofort, ist keineswegs glücklich. Denn vor ihm liegt das Ungewisse und hinter ihm das große Scheitern. Das Wort kommt etymologisch von „Holzscheit“. Und so ist es auch gemeint von dieser Malerin, die mit ihrem stark flächigen Pinselschlag, den reduzierten Formen und fragmentarischen Gebilden der gestischen wie psychologischen Ausdruckskraft der deutschen Expressionisten, so der „Brücke“, nahe ist. Sie malte damals, kurz vor der Wende, das Gleichnis einer zerbrochenen Gesellschaftsvision und der Utopie-Ermüdung. Und, auch dieses Bild ist in der Ausstellung zu sehen, sie malte sich 1989 selbst, nackt als weiblicher Don Quixote, erschöpft vom Kampf gegen die staatlichen Windmühlen.
Ihr Gemälde ist in dieser Ausstellung in denkwürdiger Gesellschaft. Es korrespondiert mit den subtilen Frauen-Porträts von Uta Hünniger, den klaustrophobischen Motiven von Annemirl Bauer, die von den DDR-Kultur-Natschalniks Geächtete, weil sie Leben und Kunst im Mauerland in erstickender Enge darstellte. Herrmanns Weggehender kontrastiert in seiner Härte die verletzlichen Frauenbilder Tina Baras, die müden, freundlichen Gesichtern der Arbeiterinnen aus dem Bekleidungswerk Treff-Modelle der Fotografin Helga Paris. Exzentrisch sind die mythologischen Schlangenfrauen Angela Hampels, voller Zweifel am Leben erst im vormundschaftlichen Staat und dann in der marktwirtschaftlichen Freiheit nach 1990 die farbkrachenden Tafeln von Walter Libuda und Werner Liebmann. Alle erzählen sie ihre Geschichten: die Maler Harald Metzkes, Wolfgang Peuker, Hans Ticha, Konrad Knebel mit seinen „Biografien“ der alten Mietskasernen Berlins, die heute längst saniert sind. Und Metaphern voller Sehnsucht und Zweifel sind auch die fragmentarischen Skulpturen der Bildhauer Sylvia Hagen, Anna Franziska Schwarzbach, Berndt Wilde. Es sind allesamt künstlerische Reflektionen auf ein widersprüchliches und turbulentes Jahrzehnt. Abschied und Neubeginn.
Viele der Werke sind mit den Gefühlen von Heimat, Verlust und Zugehörigkeit verbunden. Auch nach der Wiedervereinigung verschwand das Emotionale, das Enttäuschte, Resignierende, das Melancholische und Dystopische nicht aus den Arbeiten. Manche Motive sind trotzig. Und viele interpretieren wir heute anders. Die Welt hat sich verändert, die politische, die gesellschaftliche Landkarte. Der Kalte Krieg ist Geschichte. Doch wir haben global neue Krisen, Gewalt, Krieg. Der Kunst geht der Stoff nicht aus.
„Aufbrüche. Abbrüche. Umbrüche. Kunst in Ost-Berlin 1985-1995“, bis 11. Dezember, Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank, Kaiserdamm 105, Di-So 10-18 Uhr Kreativwerkstatt geöffnet
Weitere Ausstellungsorte: ab 16. September: Nikolaikirche und Ephraim Palais im Nikolaiviertel.