Wie ich auf der Documenta eingeschlafen bin und allein aufwachte

Es gibt sie noch, die kontemplativen Momente im produktiven Documenta-Gewirr der Kollektive, Debatten und Prozesse. Man lasse sich nieder und gebe sich hin.

Die Installation „Pila“ (Schlange) von Kiri Dalena (Ausschnitt) bei der Documenta.
Die Installation „Pila“ (Schlange) von Kiri Dalena (Ausschnitt) bei der Documenta.Maja Wirkus

Es ist Nacht, Menschen sitzen auf der Bordsteinkante zwischen Waren, Pflanzen und Müll. Sie stehen für ein bisschen was zu essen an. Wir sind in den Philippinen, die Corona-Pandemie wirkt sich auf die Lebensmittelversorgung aus, viele haben ihre Jobs verloren, kommunale Vorratskammern wurden eingerichtet, wo man Lebensmittel abgeben oder abholen kann, nach der Devise: „Gib, was du geben kannst, und nimm nur das, was du benötigst.“

Die Künstlerin Kiri Dalena hat eine fünfkanalige Videoinstallation für die Documenta geschaffen. Fünf Kameras beobachten geduldig die in der Schlange (Philippinisch: „Pila“, so der Titel) Wartenden. Wie sie miteinander plaudern, über die politische Situation diskutieren, ihre Notlage schildern, ein bisschen einnicken, einen Schluck Wasser trinken, ein Baby schaukeln, sich strecken, ein Tänzchen hinlegen, kichern, seufzen, grummeln.

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Die Documenta-Besucher betreten den großzügigen Raum mit den fünf nebeneinander aufgehängten Leinwänden, die meisten streben vorbei, zum Ausgang dieses Ausstellungsortes, einem von 32. Es gibt so viel zu sehen und zu lesen und zu prüfen und zu kontextualisieren, dass wenig Zeit für das einzelne Werk bleibt. Diese Hektik ist ein beredter Widerspruch zu der Ruhe und Gelassenheit der Leute auf den Leinwänden, die ein paar Stunden auf ihre 500 Gramm Reis warten.

Es gibt aber auch ein paar Sitzsäcke, ich lasse mich nieder, denn ich bin im Urlaub – ja, in Kassel! – und habe Zeit. Nach einer Weile schließe ich die Augen, vernehme die inzwischen vertrauten Stimmen, die sich mit dem philippinischen Verkehrslärm zu einem Klangteppich verweben. Dazu kommt das Stimmengewirr der Documenta-Besucher, das sich gut einfügt, hin und wieder quietscht eine Gummisohle auf dem Fußboden, und in unregelmäßigen Abständen fällt die Ausgangstür ins Schloss.

Ich gebe mich dem Halbschlaf hin, die Welten vor und auf der Leinwand verschwimmen. Ich träume nicht, aber ich verlasse, bequem liegend, meine Seinssphäre und füge mich in die des Werks, reihe mich ein und teile eine gemeinsame Zeit mit den Wartenden, komme ihnen nah. Ich verpasse, wie es hell wird in diesem armen philippinischen Viertel, wie sich die Wartenden erheben, strecken, sortieren und wie sie schließlich aus dem Bild zur Ausgabestelle gehen. Als ich aufwache, bin ich sehr allein auf einer leeren Straße und bleibe noch ein bisschen liegen.