In Zineb Sediras Kunst haben Träume keine Titel
Eine Reise durch Räume und Zeiten mit der algerisch-französischen Biennale-Künstlerin Zineb Sedira im Hamburger Bahnhof Berlin.

Das Museum tanzt. Tangoklänge bringen die Körper der Paare und die Wände im Obergeschoss des kürzlich unter Denkmalschutz gestellten und damit vor kunstfremdem Begehren ein für allemal geschützten Hamburger Bahnhofs zum Vibrieren. Die sich drehenden Spiegelglaskugeln im zum Tanzsalon umfunktionierten Werkraum funkeln zwischen bunten Glühbirnen.
Ein professionelles Tänzerpaar in verschiedenen historischen Looks, ganz wie in Ettore Scolas Kultfilm „Le Bal – der Tanzpalast“, zeigt, wie es geht: Dieses erotische Körperreiben zu dieser traurig-exaltierten Musik mit dem sogleich folgenden abrupten Distanzieren der sich verbiegenden Leiber von Mann und Frau, das Anschmiegen und das Köpfe-nach-hinten-Werfen, die raffinierten Schleif-Schritte, vorwärts, rückwärts, seitwärts. Das Sich-Drehen der Körper, langsam, fast auf der Stelle. Der einst in Argentinien geborene Tango boomte vor 100 Jahren in Paris, es war der erste große Weltmusik-Trend, der salonfähig wurde und bald auch in den Städten einstiger Kolonialstaaten der Grande Nation getanzt wurde, als Ausdruck einer großen Sehnsucht.

Zineb Sedira, Jahrgang 1963, Kind algerischer Einwanderer in Frankreich, erweckt ihre begehbaren Installationen als Paraphrasen großer alter Filme zum Leben. Sie hat ihre Arbeit für den französischen Pavillon auf der 59. Biennale Venedig 2020 soeben in den Hamburger Bahnhof versetzt. Das neue Direktorenduo Till Fellrath und Sam Bardaouil gibt damit seine Kuratorenpremiere – und es ist zugleich der erste große Auftritt der Künstlerin in hiesigen Gefilden. Sie nennt auch diese, wie eine riesige Rauminstallation angelegte Ausstellung „Dreams Have No Titles“ (Träume haben keine Titel), genauso wie letzten Sommer im französischen Pavillon in den Gärten der Serenissima.
Und abermals verwebt sie auch im Zusammenspiel von Film, Interieur, Skulptur, Fotografie und Performance, wie sie es sagt, „Fragmente meiner eigenen Biografie mit der Geschichte aktivistischer Filme im Kontext von Frankreich, Algerien und Italien“. Sedira konzipiert den Ausstellungsraum als Filmset für einen Livedreh, der Fiktion und Dokumentation, Persönliches und Kollektives verbindet. Dass Träume keine Titel haben, verknüpft sie nicht bloß mit einem wichtigen Wendepunkt in der Geschichte der avantgardistischen Filmproduktion der 60er- und 70er-Jahre, sondern durch all diese Filme und Installationen von Wohnzimmern, am Boden und auf Sofas ausgelegten algerischen Teppichen. Auf Tischen, in Regalen liegen Schallplatten. Schuhe, Hemden, Gläser, Zigarettenschachteln, Sportutensilien, Eintrittsbänder zu Konzerten, an den Wänden farbintensive Bilder und revolutionäre Plakate erwecken den Eindruck, dass hier Leute wohnen.

Überall Mobiliar der 60er-Jahre, Instrumente – und deckenhohen Säulen aus runden Filmbüchsen. All das sickert melancholisch ein in die gesamte Rauminstallation, für Sedira „die Geschichte vom Scheitern eines Traumes von Emanzipation, Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, der seit dem Jahrhundert der Moderne und bis heute für viele Menschen ein unerfülltes Versprechen bleibt.“ Und deshalb, setzt sie hinzu, habe Kunst mehr denn je ihren Platz „auf den Barrikaden“.
Ein Wechselbad der Gefühle löst sie aus mit ihrer bunten, musikalischen, poetischen und zugleich an manchen Stellen auch schwermütigen Kunst. Wir erleben ein beinahe autobiografisches, zugleich mit viel Fiktion gemischtes Filmessay über Musik, Tanz – und das Kino. Sie hat sogar einen Kinosaal aufgebaut, abgedunkelt, mit Sitzen und großer Leinwand. Das Publikum zeigt besonderen Spaß daran, dass am Beginn der „Vorführung“ die Hamburger-Bahnhof-Direktoren Till Fellrath und Sam Bardaouil sozusagen die Einführungsrollen übernehmen, im Hintergrund jene Filmbüchsen-Installation wie am Beginn der Ausstellung. Die beiden machen das ganz locker, dann laufen auf der Leinwand jene Filmsequenzen, die wir anschließend in den meisterlich rekonstruierten Räumen nacherleben.

Zineb Sedira zieht uns also körperlich und mit allen Sinnen hinein in eine fulminante Bild-im-Bild-Installation, aber ohne Anfang und ohne Ende. Da sind Verweise auf Orson Welles’ „F for Fake“ von 1973, wo es um Authentizität geht und die Frage, wer für wen Geschichte schreibt. Die Künstlerin bezieht auch die sogenannten Casbah-Filme ein, so Viscontis „Der Fremde“ von 1967, Pontecorvos „Schlacht um Algier“ von 1966, und „Les mains libre“ von 1964, den lange Zeit in den Archiven verschwundenen Dokumentarfilm über den algerischen Unabhängigkeitskampf.
Die Erzählungen über die Freiheitsbewegung der Algerier verwebt Sedira mit der eigenen Erzählung aus dem Off, wie ihre eigene Familie, wie Verwandte und Freunde als Migranten in Frankreich leben, unter der einstigen Kolonialmacht. Ihre Kunst wird zur Geschichtsstunde. Und so ist „Träume haben keine Titel“ großes Kino über Gewalt und Trauer, Heimat und Verlust, Migration, Integration und Solidarität; eine universale Erzählung, bewegend auch angesichts gegenwärtiger Dramen von Krieg, Flucht und Vertreibung in der Welt, dem Krieg der Russen gegen die Ukraine.

Zineb Sediras Kunst ist die Inklusion von kollektiven und persönlichen Geschichten. Eine Reise durch Räume und Zeiten. Bruchstückhaft, ohne jede Nostalgie, aber emotional und meist voller Poesie und Zärtlichkeit ziehen sie vorbei: Menschen, Jahre, Leben. Und dann, am Ausgang der Ausstellung, tanzt eine Frau mit dunklem Haar, ohne Partner ganz allein, wieder Tango.
Zineb Sedira: Träume haben keine Titel. Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Invalidenstr. 50/51., Di, Mi, Fr 10–18/ Do 10–20/Sa + So 11–18 Uhr. Bis 30. Juli