Berlin - Die Geschichte ist so schön und schräg, wie man sie sich bei blühendster Fantasie nicht ausdenken würde. Aber sie hat sich wirklich zugetragen. Seit Kriegsende steht im Garten einer Wannsee-Villa eine Marmorskulptur, der niemand so recht Beachtung schenkte: Ein Knabe mit langem lockigen Haar und einer lustigen Mütze auf dem Kopf, eines dieser typischen akademischen Bildwerke aus der wilhelminischen Zeit. Der Jüngling saß ganz schmuck im Park, aber keiner hatte Interesse, mehr über ihn herauszubekommen.
Bis Jeffrey Chipps Smith kam. Seit 1998 sitzt die American Academy in der Villa. Wissenschaftler aus den USA finden hier ihr Arkadien auf Zeit. So auch der Dürer-Spezialist Smith, Kunsthistoriker von der University of Texas. Als Smith beim Spaziergang im Garten den Marmorknaben sah, klingelte sein Bildgedächtnis: Er hatte eine Zeichnung vor Augen, auf der sich Dürer als 13-Jähriger darstellte. Das Thema der Plastik war gefunden – und Smith’ detektivischer Ehrgeiz geweckt. Nun wollte er auch wissen, wer der Künstler war. Smith fand ihn bald, doch bei seiner Recherche klärte sich noch mehr auf: nämlich wie das Werk zur American Academy gekommen war.
Der Bildhauer Friedrich Salomon Beer (1846–1912) schuf „Albrecht Dürer als Knaben“ Anfang der 1870er-Jahre. 1887 kaufte die Nationalgalerie auf der Museumsinsel die Plastik. Mitten im Zweiten Weltkrieg, 1940, lieh sich Reichswirtschaftsminister Walther Funk, der nun in der konfiszierten Villa des jüdischen Bankiers Arnhold residierte, den Dürer-Jungen für seinen Park. Nach dem Krieg galt die Skulptur als verschollen. Die Nationalgalerie nahm sie in ihren Verlustkatalog auf, auch in der Datenbank „lostart“ ist sie aufgeführt. Smith konnte nun der Nationalgalerie die freudige Botschaft von der Wiederentdeckung des verlorenen Knaben machen. Jetzt geht Beers Skulptur erst einmal zum Restaurator, ab Mai soll sie in einer Nürnberger Dürer-Ausstellung gezeigt werden. Danach wird sie wahrscheinlich als Leihgabe der Nationalgalerie in den Wannseegarten zurückkehren.
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So kann es gehen: Bei Kriegsverlusten von Kunst denken wir meist an die Beutezüge der Roten Armee oder an langfingrige US-Soldaten. Aber manchmal blieben die Werke einfach dort, wo sie gerade waren, sie aber bald niemand mehr vermutete. Dann hilft nur ein Dürer-Spezialist aus dem fernen Texas.