Kunstfund in München: Tonnenschwerer politischer Druck
Seit zehn Tagen ist dieser Fall in der Welt, von dem zuvor nur ganz wenige wussten. Dann war er nicht mehr geheim zu halten – und nun bringt er den braven Geheimnisträgern heftige Vorwürfe ein: Im Frühjahr 2012 stellte die Zollfahndung in einer Münchener Wohnung 1406 offensichtlich sehr wertvolle, teils verschollen geglaubte und nach 1945 gesuchte Bilder sicher: Gemälde, Grafiken, Zeichnungen der Moderne wie Alter Meister.
Der ganze Fund – bestehend aus expressionistischer, impressionistischer, neusachlicher und historischer Kunst – war in der Zeit des Nationalsozialismus in den Besitz des namhaften Sammlers, Expressionismusliebhabers, Händlers und Kunstbeschaffers im Dritten Reich, Hildebrand Gurlitt (1895-1956) gelangt und auf dessen Sohn Cornelius Gurlitt übergegangen.
Verhuschtes Foto
Letzterer, 79, wohnt in besagter Schwabinger Wohnung und wurde, bis dahin gleichsam ein Phantom, vor zwei Tagen von Reportern einer französischen Zeitung leibhaftig gesichtet: beim Einkauf im Supermarkt. Im Internet erschien ein verhuschtes Foto von einem zierlichen weißhaarigen und offensichtlich verschüchterten alten Herrn. Dieses Porträt müssen wir unseren Lesern vorenthalten. Das französische Boulevardblatt gestattet keinen Zugriff. Ebensowenig gibt es Bildmaterial von jenen 22 Kunstwerken, die am letzten Wochenende ein Mann namens Wolfgang Gurlitt aus Kornwestheim, wohl der Schwager von Cornelius Gurlitt, dem LKA Baden-Württemberg meldete. Wie es heißt, aus Sorge, um die Werke wegen der Medienhysterie. Diese Bilder seien an einen sicheren Ort gebracht worden, so die Behörden vorerst.
Die Sache spitzt sich zu: Seit dem 4. November gibt es aller paar Stunden neuere Erkenntnisse oder wilde Spekulationen – über oder um den sensationellen Kunstfund. Nur wenige der Bilder aus der Münchener Gurlitt-Wohnung waren nach Bekanntwerden des Falles kurz zu sehen – als Foto von in Folien verpackten Werken auf einer Pressekonferenz der Augsburger Staatsanwaltschaft, die gegen Gurlitt wegen Steuerhinterziehung ermittelt.
Öffentlich wurde auch, dass die Staatsanwaltschaft schon letztes Jahr eine renommierte Provenienzforscherin, die Berlinerin Meike Hoffmann, hinzugezogen hat. Eine Titanenarbeit für eine einzige Wissenschaftlerin. Die Frau würde Jahrzehnte brauchen, schon allein um den Unterschied sauber zu klären, ob es sich bei den Funden um „Raubkunst“ handelt, also um Werke, die für die Privatsammlungen von NS-Größen, vor allem für Hitlers Führermuseum Linz bestimmt waren. Oder ob die Bilder legal erworben wurden. Mittlerweile „ermitteln“ und forschen alle mit: Fernsehen, Radio, Zeitungen, Internetplattformen. Die Meinungen und Beiträge vieler inzwischen Befragter – in Sachen Recht wie in Sachen Kunst – ergaben bislang oft mehr Fragen als Antworten. Und mit jeder Neuigkeit, des mal als „berechtigt“, dann wieder völlig „widerrechtlich“ bezeichneten Gurlitt-Besitzes schrieb sich die Geschichte wirr und munter fort, sobald sich wieder ein Experte meldete, ein Anwalt protestierte.
Vor wenigen Tagen hat der Jüdische Weltkongress die deutsche Rechtslage kritisiert, weil sie Rückgabe und Restitutionsansprüche der ehemaligen (jüdischen) Eigentümer nicht durchsetzbar mache, sondern Nazi-Unrecht – Enteignungen und Zwangsverkäufe von Kunst – noch nachträglich zementiere.
Möglicherweise doch NS-Raubkunst
Der spannende Schlagabtausch zwischen Emotionalem und Sachlichem in der Masse von Veröffentlichungen sorgte also zunächst nur bedingt für Erhellung. Doch all unserem zuerst eher aufgeregten journalistischen Stochern im Nebel der NS- und Nachkriegs-Geschichte wie der rechtlichen Gemengelage folgten zum Glück mehr und mehr nüchterne Fakten, die Irritationen abbauen halfen, gerade wegen der ständigen Vermischung der Begriffe „Entartete Kunst“ und „Raubkunst“. Der weitaus größere Teil der Gurlitt-Sammlung, nämlich etwa 590 Werke, so der nunmehrige Erkenntnisstand, ist möglicherweise doch NS-Raubkunst. Dabei handelt es sich um Arbeiten, die verfolgten Juden während der Nazi-Zeit weggenommen, abgepresst oder unter Druck billig abgekauft wurden.
Seit der Nacht zum Dienstag nun, nachdem auch der amtierende deutsche Außenminister Guido Westerwelle bei einem Staatsbesuch in Indien selbst von dort aus vor einem „Schaden für Deutschlands Ansehen“ in dieser Angelegenheit gewarnt hat, handelten das Bayerische Justizministerium und Bundesministerien geradezu überstürzt. Sie ließen eine erste Liste mit 25 Werken aus dem Münchener Fund auf der Internetplattform lostart.de einstellen. Für diese Werke gilt der Verdacht eines „NS-verfolgunsgbedingten Entziehungshintergrundes“. Prompt war gestern das Netz heillos überlastet; ein Geduldsspiel, die briefmarkengroßen Bilder von Felixmüller, Dix, Liebermann, Matisse, Canaletto zu sehen.
Zudem veranlassten die Behörden die sofortige Bildung einer „Taskforce“ aus mindesten sechs Sachverständigen auf dem Gebiet der Herkunftsforschung von Kunstwerken. Der politische Druck aus dem In- und Ausland erhöht sich, fast stündlich, mittlerweile zur Tonnenlast. Die Forderung des Tages heißt nun: Transparenz und Tempo.