Kunstszene in Berlin: So verändert sich der Kiez in Wedding

Zweiundfünfzig Meter hoch reckt sich der Schornstein des einstigen Krematoriums an der Gerichtstraße in die Höhe, weit über die Dächer des Weddinger Kiezes. Jörg Heitmann deutet an die Spitze und erzählt, man habe kurz überlegt, ihn abzureißen. Rasch aber war der Gedanke wieder verworfen. „Das war hier nun mal so“, sagt Heitmann. Demnächst will die Galerie eine internationale Ausschreibung für eine Lichtinstallation am Kamin starten.

Das Krematorium, gebaut von 1910 bis 1912, war einst das größte Berlins. 2002 geschlossen, stand es zehn Jahre leer, bis Heitmann und Bettina Ellerkamp kamen und es kauften. Auf der Suche waren beide, die in den 90ern Häuser besetzten, als Botschaft e.V. Veranstaltungen organisierten und als dogfilm Filme drehten, damals nicht, doch das Objekt überzeugte. Ein Gebäude dieser Größe, vom Bezirk für eine kulturelle Nutzung vorgesehen, wo gibt es das noch? „Eine Oase mitten in der Stadt“, meint Ellerkamp.

Urnenfächer zu Bücherregalen

Seit 15 Jahren schon heißt es, der Wedding komme, doch bislang ließ er auf sich warten. Das ehemalige Arbeiterviertel, in dem heute jeder Zweite Migrationshintergrund hat, scheint widerständiger zu sein als etwa Neukölln und die Infrastruktur jenseits von dem, was unter den Begriff Gentrifizierung fallen könnte, gesünder. Auf der Müllerstraße, dem Ku’Damm des Weddings, reihen sich Wettbüros an Ein-Euro-Läden, Dönerläden und Sonnenstudios. Leerstand gab es vor ein paar Jahren mal, mittlerweile nicht mehr. Auch den alten Westberliner Kiez kann man hier noch besichtigen, seine Orte, vor allem die Eckkneipen, seine Typen. Die Gegend mit dem wüsten Brennpunkt-Image hat ihre gemütlichen Seiten, und ein paar Leuchtturmprojekte: Die Uferhallen samt Uferstudios und der Galerie KM von Nina Köller und Jens Mentrup in der Nachbarschaft, das Ex-Rotaprint – und das Silent Green von Heitmann und Ellerkamp.

Das Duo renovierte mit Bedacht, beließ im Saal den alten Terrazzoboden. Aus Urnenfächern wurden Bücherregale, man ließ viel Licht ins alte Gemäuer und lockte die passenden Mieter für das Kulturzentrum an: Film- und Musikleute, ein wenig Kunst. Das Arsenal Film-Archiv ist jetzt hier untergebracht, dazu das Harun Farocki Institut, das Musiklabel K7!, das Musicboard Berlin, die Pictoplasma, jüngst kam der Projektraum Savvy Contemporary dazu. Und in der einstigen Leichenhalle unter der Erde soll in ein paar Jahren ein Zentrum für Bewegtbild entstehen.

Schon sehr viel weiter ist Patrick Ebensperger, der seine Galerie ebenfalls auf dem Gelände des alten Krematoriums hat. 2012 kaufte er Jörg Heitmann die Aussegnungshalle ab. Wie er, der Österreicher, ausgerechnet hier gelandet ist? „Ganz unromantisch, über eine Anzeige im Internet“, erzählt er. Der Stadtteil sei ihm anfangs eher egal gewesen. Im Nachhinein erst zeige sich, wie gut die Lage eigentlich doch sei, so nahe am Neuen Berliner Kunstverein, am Nationalgalerie-Museum Hamburger Bahnhof. Seit 2013 bietet Ebensperger im Wedding junge Kunst: Videoarbeiten und Installationen von berühmten internationalen Künstlern wie Bjørn Melhus, Performances von Hajnal Nemeth oder kinetische Skulpturen von David Moises.

„Wenn es bei uns an der Vordertür klingelt, dann kann man schon mal das Hemd glatt streichen“, meint Galeriemitarbeiter Sebastian Hoffmann. Das sei dann gewiss niemand, der nur für eine Minute hereinschaue, sondern jemand, der sich bewusst für diesen Besuch entschieden habe, einer, der die seitliche, mit zig Zetteln beklebte Metalltür nicht übersehen habe.

Die große weiße Halle im Erdgeschoss mit ihrem auratischen Charme, aber zu wenig Wänden, an die man Bilder hängen kann, hat Ebensperger inzwischen an die Multimediaagentur Luxoom vermietet. Die Ausstellungen verlegte er ins frisch renovierte Untergeschoss. Derzeit hängen hier Arbeiten von Alois Mosbacher – Gemälde und Papierarbeiten mit Motiven von Hunden und Bäumen. Die scheinen aus dem Weltall geradewegs auf dem Planeten Wedding gelandet. Als Ebensperger hier seine Galerie eröffnete, waren andere namhafte Galerien gerade weggezogen: Max Hetzler und Guido Baudach hatten Charlottenburg vorgezogen. Andere kommerzielle Galerien gibt es im Kiez nicht, Synergien ergeben sich ab und an mit Luxoom, dem Silent Green oder den Uferstudios. Das typische Szenevolk, das von einer Vernissage zur nächsten flaniert, hat Ebensperger jedoch nicht auf der Route. „Nur, was sind das für Leute?“ Eventhopper, die gleich weiterziehen. Zu den Ebensperger-Eröffnungen kommen echte Kunstfans. Die Distanz zur rasanten Kunstparty-Szene verschafft Möglichkeiten, Unkonventionelleres zu realisieren und mit dem Ort anders umzugehen. Gegenüber gibt es die Plantage, eine Kiezkneipe, in der man nach der Eröffnung essen geht und die auch als witziger Ausstellungsraum genutzt wird.

Unweit davon, nahe dem ehemaligen Stadtbad, hat sich zeitgleich eine „Kunstbar“ etabliert. Der kanadische Maler Charles Forsberg eröffnete diese im Souterrain. Die Drinks kreiert er selbst, auch etlicher Möbel hat er selbst gebaut. An den Wänden hängt seine knallbunte, abstrakte Malerei. Die Bar ist eine Ausnahme in der Gastronomielandschaft des Weddings – zugleich Forsbergs Ausstellungsraum. Eine Galerie braucht er also nicht; er verkauft meist übers Internet oder gleich in der Bar .

Mit Blick aufs Andersartige

Projekträume, wie man sie aus anderen Berliner Vierteln kennt, haben im Wedding meist keine Lebensdauer. Der Kunstort „Hinter den Vögeln“ hielt sich nicht, auch der „Kunstraum Maxstraße 1“ ist nach nur einem Jahr ausgezogen. Beständig ist hingegen die Galerie Wedding. Der kommunale Ausstellungsort mit den großen Fensterfronten im Rathaus Wedding besteht seit 2009, führte aber ein Schattendasein. Seit Solvej Helweg Ovesen und Bonaventure Soh Bejeng Ndking letztes Jahr unter dem Titel „Post-Otherness-Wedding“ den Raum bespielen, ist das anders. Mit ihrem freien Blick auf Andersartigkeit, kulturelle Verflechtungen und Vielfalt hauchten sie dem Ort frisches Leben ein – und schafften zugleich eine enge Verbindung zum interkulturellen Stadtbezirk. Gerade hat Henrike Naumanns Ausstellung „Aufbau Ost“ begonnen, die sich mit dem Mauerfall, der Wendezeit, den deutsch-deutschen Jugendkulturen und dem wieder aufkommenden Extremismus befasst. Solche Ausstellungsthemen sind auf der Höhe der Zeit, der Anspruch ist hoch, zu den Eröffnungen kommt das Publikum in Massen – und auch die Anbindung an den Kiez funktioniert. Behutsam jedenfalls.

Man müsse dem Wedding eben sein eigenes Tempo lassen, das sagen sie alle, die hier, weitab der touristischen Trampelpfade und der Nobelgalerien für die Gegenwartskunst arbeiten.