„Stray“ ist das schönste Videospiel des Sommers: Endlich Katze sein

Warum gibt es eigentlich so wenig Spiele aus der Perspektive von Tieren? „Stray“ könnte mit weichen Pfoten einen Trend lostreten.

Ein Streuner in der Cyberpunk-Stadt. Wo sind bloß die Menschen?
Ein Streuner in der Cyberpunk-Stadt. Wo sind bloß die Menschen?Annapurna Interactive

So schnell kann es gehen. Gerade noch stromert die rote Hauskatze fröhlich mit drei haarigen Begleitern durch ihr Revier, das sich die Natur offenbar vor langer Zeit von den Menschen zurückerobert hat, da reißt ein rostiges Rohr sie plötzlich in eine andere Welt hinab. Schluss mit gleißendem Sonnenlicht und sanfter Brise – als die Katze wieder auf die Pfoten kommt, steht sie mitten in einer stinkenden, unterirdischen Müllhalde. Hinter der nächsten Tür wartet zwar auch kein Sonnenstrahl, aber immerhin bunt blinkende Lichter: Eine Cyberpunk-Welt à la Blade Runner tut sich auf. Bevölkert wird sie von rustikalen Robotern, die den Menschen nacheifern oder von ihnen zum Nacheifern programmiert wurden, das wird sich noch herausstellen.

Doch wo sind die Menschen? „RIP Humans“ haben Roboterkids an die Wände gesprüht. Ob die Spezies tatsächlich ausgestorben ist, das wird die kleine Katze im weiteren Spielverlauf herausfinden, und bald ist sie dabei nicht mehr allein. Auf ihrer Suche nach einem Weg zurück an die Oberfläche erweckt sie eine kleine Drohne zum Leben, die ihr Gedächtnis verloren, beziehungsweise einen beschädigten Speicher hat. Als B-12 stellt sich das niedliche Maschinchen vor, eine Anspielung auf das französische Entwicklerstudio Blue Twelve Studio, das mit „Stray“ sein erstes Spiel vorlegt.

Oma Roboter strickt Kabelponchos

Seit vor knapp zwei Jahren bei der offiziellen Vorstellung der neuen Spielekonsole Play Station 5 erste Szenen aus dem dystopischen Katzenabenteuer gezeigt wurden, blieb die Vorfreude darauf konstant – vor der Veröffentlichung am 19. Juli war es auf der Spieleplattform Steam der offiziell meistgewünschte Titel. Das lag sicher auch am Look, größtenteils wohl aber an dem zu steuernden Helden. Warum eigentlich gibt es bisher so wenige Spiele aus der Perspektive von Tieren? Das junge deutsche Studio Mooneye schickte 2019 in „Lost Ember“ einen Wolf ins Rennen, ebenfalls auf der Suche nach einer untergegangenen Zivilisation; „Maneater“, bei dem man als Weißer Hai auf Futtersuche geht, erreichte 2020 einen gewissen Kultstatus. Dann wird es schon dünn.

Womöglich wird „Stray“ daran etwas ändern, denn auf Katzenpfoten die Stadt zu erkunden, bereitet auf eine beruhigende Art so viel Freude, dass die eigentliche Handlung schnell nebensächlich wird. Den Entwicklern aus Montpellier, deren zugelaufener Kater Murtaugh die Hauptinspiration für das Spiel war, wird das bewusst gewesen sein, denn sie verzichten in „Stray“ auf allzu komplexes Gameplay oder ausschweifende Dialoge.

Fast immer können die Spieler in ihrem eigenen Tempo vorgehen, die Dächer der Stadt erklimmen, kleine Rätsel lösen oder Aufgaben für Roboter mit ihren allzu menschlichen Bedürfnisse erledigen. Einem ist etwas kühl, er braucht einen Kabelponcho, gestrickt von Oma Roboter. Ein anderer möchte Gitarre spielen, hat aber keine Noten. Alles kein Problem für die Katze, die mithilfe von B-12 mit den Stadtbewohnern kommunizieren kann.

Kleine Verschnaufpause auf dem Billardtisch in der Roboterkneipe
Kleine Verschnaufpause auf dem Billardtisch in der RoboterkneipeAnnapurna Interactive

Das perfekte Anfängerspiel

Das übergeordnete Ziel bleibt aber der Weg an die Oberfläche, wo einst die gehobene Klasse der Bevölkerung lebte und von dort ihren Müll an die unteren Schichten weiterleitete. Organismen, die den Abfall vertilgen sollen, sind mittlerweile zu gefährlichen, igelgroßen Quälgeistern mutiert, die es hin und wieder durch geschickte Manöver abzuschütteln gilt. An diesen Stellen ist ein wenig Gaming-Expertise gefragt, generell wird „Stray“ aber auch Menschen nicht überfordern, die noch nie in ihrem Leben einen Controller in der Hand gehalten haben.

In guter Katzenmanier kann der kleine Held quasi nicht stürzen, und die meiste Zeit müssen Spieler nur einen einzigen Knopf drücken – es sei denn, sie wollen zwischendurch mal laut miauen, Robotern um die Beine streifen oder ihre Krallen an alten Sofas abwetzen. Trotz der buchstäblich niedrigen Fallhöhe kommt keine Langeweile auf, auch weil die Entwickler von Anfang an, unterstützt durch die passende Begleitung auf der Soundebene, eine meditative Atmosphäre kreieren, in der vorsichtige Neugier das Geschehen bestimmt, nur sehr sporadisch unterbrochen von Action-Episoden. Wie man sich ein Katzenleben eben so vorstellt.

Auf der neuen Sony-Konsole läuft das Abenteuer durchgehend flüssig und ohne Ladezeiten, der Immersion in das feline Dasein steht also wenig im Wege. Nach zwei längeren Spieleabenden dürften auch die gründlichsten Spieler alles gesehen und erledigt haben. „Stray“ endet, wenn es am schönsten ist.

Wertung: 4 von 5 Punkten

Stray für Play Station 4 und 5 und PC, 30 Euro