Leipziger Israeli: „Deutschland will von unserer Lebensrealität nichts wissen“
Jüngst kam der Vorwurf auf, der Katholikentag in Stuttgart sei antisemitisch. Unser Autor sprach dort auf einem Panel. Er fordert ein Ende verkürzter Kritik.

Es war ein Moment von bittersüßem Optimismus: am Katholikentag in Stuttgart, bei einer Podiumsdiskussion über die israelische Trennungsmauer in der Westbank. Es sprach Fadi Quran, ein palästinensischer Aktivist, der beim internationalen Netzwerk Avaaz tätig ist. „Hier stehen wir, ein Palästinenser, ein israelischer Jude, und eine Deutsche“, sagte Fadi, „und wir stehen alle für ähnliche Werte, sprechen alle von einer ähnlichen Vision von Gleichberechtigung zwischen den Menschen.“
Die Veranstaltung hieß: „Mauern, Menschen, Mut: Menschen aus Israel und Palästina berichten“. Der „Mensch aus Israel“ war in diesem Fall ich. Dazu kam eine wissenschaftliche Einordnung durch die deutsche Politologin Dr. Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Einleitend stellte die Moderatorin die offizielle israelische Position zur Mauer vor.
Ich sollte erzählen, wie die Menschen in Israel, wo ich geboren bin und die Mehrheit meines Lebens verbracht habe, die Mauer erleben. Ich fragte im Vorfeld israelische Freunde, um mich eines breiteren Pools an Erfahrung zu bedienen. Sie sahen es wie ich: als Israeli bekommt man von der Mauer nichts mit. Also habe ich erzählt, wie ich als Kind glaubte, dass wir eine Mauer brauchten. Und wie viele von uns glaubten, dass dadurch womöglich Sicherheit, ja sogar Frieden in die Region einzöge. Doch wir stellten fest: nach 20 Jahren mit Mauer ist keins von beiden eingetreten. Die Trennung, betonte ich, an der als Leitprinzip auch von Mitte-Links in Israel noch festgehalten wird, bringt nicht die ersehnte Sicherheit. Sie geht mit Unterdrückung und Gewalt einher. Und eine ach so große Mauer kann nicht verhindern, dass diese auf uns Israelis zurückschlägt.
Kritische Positionen gelten nicht mehr als jüdische Positionen
Ohne offenbar den Inhalt der Veranstaltung genauer zu kennen, baute Alan Posener in Die Welt jüngst eine skurrile Erzählung um sie auf: der Katholikentag 2022 sei antisemitisch, so Posener, da er sich zwar gezielt mit dem Holocaust und mit dem rechtsextremen Antisemitismus auseinandersetzt – nicht aber mit „muslimisch motiviertem und linkem, antiisraelischem Antisemitismus“. Die Katholiken blieben ihm zufolge damit „in Sachen Antisemitismus der Tradition der Kirche verhaftet“. Sie seien, schien er zu argumentieren, Linken und Muslimen gegenüber nicht kritisch genug – oder Nazis gegenüber verhältnissmäßig zu kritisch. Dies nur am Rande: In meinen Geschichtsbüchern sah es mit der Rolle Kirche, gerade zur NS-Zeit, etwas anders aus.
Posener beanstandete, dass als Israeli lediglich ich eingeladen war – kein reger Vertreter oder Verteidiger des Staates Israel und seiner Politik. Wenn man davon ausgeht, man müsse jede Veranstaltung als performative Konfrontation zwischen „beiden Seiten“ gestalten, mag das einleuchten. Poseners Klage reiht sich allerdings in ein Phänomen ein, das hierzulande bereits strukturell verankert wirkt: radikale Kritik am Staat Israel darf, auch wenn sie von jüdischen Menschen geäußert wird, nicht als legitime beziehungsweise als genuin jüdische Position durchgehen. Positionen wie meine werden stattdessen in die Nähe von Antisemitismus gerückt.
Beispiele für dieses Muster liefert etwa auch die Berichterstattung zum Fall der „Humboldt 3“, eine Gruppe, die 2017 eine Veranstaltung mit einer israelischen Abgeordneten an der Berliner Humboldt-Uni störten. Der Tagesspiegel berichtete von „Antisemitismus in Berlin“ – ohne einen einzigen Hinweis darauf, dass die angeblich von Judenhass motivierten Störer zwei jüdische Israelis und ein Palästinenser aus Gaza waren: also allesamt Betroffene israelischer Politik, die in diesem Kontext lediglich gegen eine Vertreterin letzterer protestierten.
Deutsche Medien unterschlagen Fakten und Meinungen
Drei Jahre später schrieb die B.Z. im selben Zusammenhang über den darauffolgenden Gerichtsprozess gegen einen „Slowaken“ und eine „Rumänin“, neben einem „staatenlosen Palästinenser“. Dass es sich um einen jüdischen Israeli mit slowakischem Pass und eine jüdische Israelin mit rumänischem Pass handelte – davon war nicht die Rede. Allen dreien wird im Text gleich mehrfach Antisemitismus vorgeworfen, allein auf Basis ihrer politischen Aktivität.
Auf diese Weise wird die Meinungsdifferenz unter Israelis und jüdischen Menschen im deutschen Debattenkontext schlichtweg ausradiert. Gleichzeitig kann so jede Handlung, die gegen den Staat Israel gerichtet wird, als Angriff auf jüdisches Leben überhaupt dargestellt werden.

Es werden aber auch Fakten vom Tisch gekehrt, die für die dominanten Erzählungen zu diesem Thema unbequem wären. Erstens, dass es Jüdinnen und Juden gibt, die die Berechtigung des „jüdischen Staates“ – insbesondere als Antwort auf den Antisemitismus – in Frage stellen. Aber auch, dass viele junge jüdische Israelis dieser Tage jede Gelegenheit nutzen, um europäische Pässe zu erlangen, da wir uns im viel gerühmten „jüdischen Schutzraum“ weder wohl noch sicher fühlen. Und dies nicht nur wegen dem Ausbleiben des Friedens, sondern auch wegen der zunehmend regressiver werdenden Politik.
Die bedingungslose Unterstützung der israelischen Politik schirmt jene regressiven Tendenzen vor Kritik ab – was unterm Strich eben nicht allen jüdischen Menschen zugutekommt. Mit historischer „Wiedergutgemachung“ hat das letztlich wenig zu tun.
Israelis gelten als Störung deutscher Antisemitismus-Bekämpfung
Die Äußerung solcher Positionen gilt als Störung der deutschen Antisemitismus-Bekämpfung. Felix Klein, der Bundesbeauftragte für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, hat das selbst direkt ausgesprochen: linke Israelis in Deutschland sollten schlicht sensibler sein. Bisweilen wird unsere politische Aktivität sogar als Bedrohung in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden dargestellt – ganz so, als zählten wir nicht zu ihnen.
In der Konsequenz wird erwartet, dass wir still bleiben, während Menschen, die die israelische Realität nur aus der Ferne oder höchstens noch als Touristen kennen, realitätsfremd und idealisierend das dortige System schönreden. Und sich dafür einsetzen, dass es weiterhin die volle Unterstützung der Bundesrepublik genießt. Letzteres tun sie tagtäglich auch im Rahmen öffentlich geförderter Organisationen wie der Amadeu-Antonio-Stiftung oder in Form von Ämtern diverser, meist nicht-jüdischer Antisemitismus-Beauftragter.
Oder in der Öffentlichkeit, also wie bei Posener in dem Text, in welchem er den Staat Israel vor dem Katholikentag zu schützen meint, indem er behauptet dass Juden in Israel „Demokratie, Religionsfreiheit und Toleranz“ vorleben würden. Entspräche das der Realität, gäbe es allerdings wesentlich weniger wütende linke Israelis und Organisationen, die dem vehement widersprechen.
Für uns ist die grundlegende Frage, ob ein Land überhaupt als demokratisch gelten könnte, während unter seiner Politik Millionen staatenlos leben, ohne jegliches Recht auf Partizipation. Aber selbst die mäßigsten Beobachter – durchaus auch das liberale Milieu in Israel – sehen wir seit Jahren die israelische Demokratie in existenzieller Gefahr. Von Rechtstaatlichkeit kann man tatsächlich fast nur noch träumen. Religionsfreiheit trifft auf israelische Zustände nur insofern zu, dass die orthodoxe jüdische Religion ungehindert praktiziert werden darf. Die Gleichbehandlung anderer Religionsgemeinschaften – auch jüdischer! – bleibt aus. Von Toleranz kann in einem Land, wo die Nationalfahne der Palästinenser, die immerhin ein Fünftel der Staatsbürger ausmachen, von Sicherheitskräften zwar auf rechtswidrig, aber doch systematische Weise niedergerissen wird, kaum die Rede sein.
Die Krönung der Kränkung
Das alles sind Themen, die einem vertraut wären, würde man die israelische Presse verfolgen. In der deutschen Öffentlichkeit aber werden diese Probleme durch eine tröstliche Fiktion überdeckt. Wir, die aus Israel kommen und teilweise eine radikale Kritik nach Deutschland mitbringen, werden vor diesem Hintergrund für verrückt erklärt. Unsere Erfahrung, unsere Kritik und unser Leid passen Deutschland offenbar nicht.
Faktisch jedoch zerstört die israelische Realität tagtäglich Menschenleben, vor allem das Leben von Palästinensern, auch aber das von jüdischen Israelis. Der israelische Status quo bietet unseren Liebsten keine rosige Zukunft. Viele von uns brachte er dazu auszuwandern. Die bedingungslose Unterstützung, die er hierzulande genießt, ist die wahre Kränkung – nicht unsere Kritik.
Als wäre es nicht absurd genug, dass unsere kritischen Bemühungen im Land des größten antisemitischen Massenmords als antisemitische Drohung umgedeutet werden, wird außerdem unterstellt, dass es so etwas wie eine einheitliche jüdische Meinung gebe, ein einheitliches politisches Projekt, mit dem das Judentum irgendwie deckungsgleich sein soll. Eine Denkfigur, wie man sie ansonsten eigentlich nur aus antisemitischen Erzählungen kennt. Auf Hebräisch würde man dazu sagen: „Dem Verbrechen wird eine Sünde hinzugefügt.“