Leitartikel : Aus dem Fall Gurlitt gibt es viel zu lernen

Vor fast genau einem Jahr wurde der inzwischen weltberühmte „Schwabinger Kunstfund“ bekannt, die Sammlung des Kunsthändler-Sohns Cornelius Gurlitt. Gestern vereinbarten die Bundesregierung, das Land Bayern und das Kunstmuseum Bern, dass dieses das Erbe des im Sommer verstorbenen Gurlitt antritt – mit etlichen Auflagen. So sollen alle Werke, die eindeutig oder höchstwahrscheinlich als NS-Raubkunst anzusehen sind, an die Erben der Besitzer zurückgegeben werden. Und zwar schon von Deutschland aus, das auch die Forschung über die Geschichte der Objekte finanziert. Alle Objekte hingegen, die aus der Nazi-Aktion „Entartete Kunst“ stammen, in der seit 1937 etwa 20 000 Werke unliebsamer Künstler in deutschen öffentlichen Museen beschlagnahmt worden waren, kann das Berner Museum behalten, ebenso die beträchtlichen anderen Vermögenswerte Gurlitts.

Dem Testament Gurlitts wird Genüge getan

Eine glückliche Lösung: Die Nachkommen der einstigen Nazi-Opfer erhalten endlich ihr Erbe. Deutschland stellt sich seiner Verantwortung für die Aufklärung und Entschädigung der staatlichen Raubzüge seit 1933. Dem Testament Gurlitts wird Genüge getan, der nach seiner skandalösen Vorverurteilung als angeblich seniler und Steuern hinterziehender Hüter eines „Nazi-Schatzes“ (Der Spiegel) keinen Grund hatte, sein Erbe einem deutschen Museum zuzubilligen. Und das Berner Museum bekommt eine gut zu seinen Beständen passende Sammlung; es ist nämlich derzeit kaum anzunehmen, dass mehr als ein Bruchteil des Gurlitt-Nachlasses schließlich als Raubkunst identifiziert wird. Die anderen Bestände bleiben als Dokument der Zeit zusammen und im Museum der Öffentlichkeit zugänglich.

Berücksichtigt wurden sogar die Interessen von Museen im heutigen Polen. Auch sie werden von Bern künftig bevorzugt behandelt, zum Beispiel bei Anfragen für Leihgaben. Angesichts der Verlustlisten mit „Entarteter Kunst“aus den Museen in Stettin oder Breslau ist auch das eine vorbildlich europäische Lösung.

Cornelius Gurlitt diente oft als Sündenbock für das Versagen von Museumskuratoren, dem Kunsthandel, privaten Kunstsammlern, Politikern, aber auch der deutschen und europäischen Gesellschaften nach 1945. Aber sie waren es, die über Jahrzehnte verhinderten, dass der Kulturgutraub der Nazis und der deutschen Wehrmacht rückgängig gemacht wurde. Skandalös knappe Antrags- und Verjährungsfristen legalisierten stattdessen Hunderttausende von Raubtaten. Sie wurden ganz normal gehandelt. Zu fast aller Zufriedenheit. Noch heute fragt kaum ein Erbe nach, ob der edle Biedermeiersekretär der eigentlich zur Arbeiterklasse gehörenden Urgroßmutter nicht bei einer öffentlichen „Juden-Auktion“ im Deutschen Reich erworben wurde – oder gar durch die Plünderung der Nachbarwohnung.

Warum sollten Gurlitts Erben verzichten?

Die Rückgabe von Millionen von erbeuteten Objekten durch die USA 1945 an die von Deutschland besetzten Staaten – auch an die Sowjetunion! – und ihre Übergabe von ganzen Museen und Bibliotheken an die DDR 1954 und 1957 waren eben der historische Sonderfall.

Und haben wir so viel gelernt? Es wird mit hohem Pathos gefordert, die Cousinen, Neffen und Nichten Gurlitts sollten klaglos das Testament anerkennen und damit auf ein Millionenerbe verzichten. Aber warum sollten sie das tun, während in der Sammlung Schäfer in Schweinfurt noch bekannte Raubkunst ausgestellt wird? In einem Haus, das vom Staat, also von uns allen, bezahlt wurde! Und warum werden nicht-jüdische Opfer der Nazis immer noch anders behandelt als jüdische – haben sie individuell weniger gelitten?

Die Debatte wird also weitergehen. Nicht zuletzt in der Schweiz. Deren öffentliche Kunstbestände sind bisher kaum darauf abgetestet worden, ob es sich um Raubkunst handelt oder nicht. So mancher Museumsdirektor dürfte deswegen nur bedingt erfreut gewesen sein über die Ankündigung des Berner Kunstmuseums, nun eine Forschungsstelle einzurichten. Vor allem aber stellt sich die Frage, warum wir den Fehler von 1945 seit 1990 noch einmal machen. Es gibt nämlich immer noch eine nur sehr unsystematische Suche nach jenen Büchern, Kulturgütern und Kunstwerken, die die stalinistischen Regime etwa in der DDR ihren Bürgern raubten. Warum? Weil heutige Wähler, Institutionen und Händler Druck ausüben, dieses Thema doch bitte nicht vorrangig zu behandeln. Schließlich könne man doch nicht die Geschichte zurückdrehen. Die NS-Aufklärung sei wichtiger. Und es seien doch nur kleine Gruppen betroffen.

Es sind die Argumente, mit denen Wähler, Museen und Händler in den 50er-Jahren durchsetzten, dass NS-Opfer ihre Kunstwerke nicht wieder erhielten.