Um 20.30 Uhr steht Cristina Morales auf der Dachterrasse des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) und nimmt den Internationalen Literaturpreis entgegen. Die Abendsonne strahlt gerade noch hinter den Baumwipfeln des Tiergartens auf das kleine Podest auf der Nordseite der HKW-Dachterrasse, die hier für die Preisverleihung errichtet wurde. Auf einem Meer gelber Stühle sitzt viel Publikum unter dem wolkenlosen Sommerhimmel und jubelt Morales zu – das wirkt insgesamt eher wie ein Rockkonzert, anstatt wie eine Literaturveranstaltung. Morales’ Redebeiträge werden mehrfach unter stürmendem Beifall unterbrochen, was die Autorin und Managerin einer Punkrockband mit lässigem Grinsen quittiert.
„Freiheit“, sagt sie ins Mikrofon, sei nicht einfach nur das Feiern. „Wir wollen eine Wohnung, in der wir sicher vor der Polizei sind, und wir wollen uns draußen bewegen, ohne Angst zu haben, vergewaltigt zu werden. Das ist Freiheit!“ Erneut applaudiert die Menge, bevor Morales dazu aufruft, die Wut, die man im Bauch spüre, zu kanalisieren und sich zu organisieren, damit diese Energie nicht ungenutzt verpufft. Dann hebt sie fröhlich, wie zu einem lässigen Gruß, beide Mittelfinger in die Abendsonne. Und verlässt die Bühne.
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Zündstoff auf Papier
Die 37-Jährige hat ein explosives Buch geschrieben, wie Zündstoff auf Papier – und das ist weder eine Floskel, noch eine Übertreibung. „Leichte Sprache“ erzählt von vier als geistig behindert kategorisierten jungen Frauen, die sich, jede auf ihre Weise, ihre Freiheit erkämpfen. Es ist ein Buch, das vor Beschimpfungen und Ausbrüchen nur so überquillt. Vor allem Nati, eine der Hauptfiguren, wehrt sich verbal gegen das System und schlägt wütend um sich – gegen alles, was sie als unterdrückend empfindet.
Zwei Stunden vor der Preisverleihung sitze ich mit Cristina Morales in einem der vielen Büros des HKW. Morales selbst hat auch Wut im Bauch, das spürt man, wenn man mit ihr spricht. Wut, die direkt in Nati geflossen ist. „Ohne die Figur würde ich mit einem Gewehr auf die Straße rennen – wo ich dann aber feststellen müsste, dass ich es nicht bedienen kann“, sagt sie lachend, nachdem sie lange durch die Nase ausatmet, als müsse sie erst einmal Dampf ablassen.
Die Autorin fühlt sich im Englischen nicht wohl und wir brauchen eine Dolmetscherin. Wenn Morales auf Spanisch loslegt, habe ich bei fast jeder Antwort kurz das Gefühl, dass ihre Wut sich auf mich persönlich richtet. Und, ja, die Wut ist da, auf jeden Fall. Aber sie richtet sich nicht gegen den Journalisten, sondern gegen etwas viel Größeres: das System. So abgedroschen das klingt, so ernst meint es diese Autorin.
Was kann man mit Gewehr in der Hand ändern?
Also: Was würde Cristina Morales mit einem Gewehr in der Hand auf der Straße an der Gesellschaft ändern? „Vermutlich nichts“, sagt sie. Und: „Ich würde nichts erreichen, alleine mit einem Gewehr auf der Straße. Auch wenn Mexikanerinnen oder auch Kurdinnen mit Gewehren in der Hand gemeinsam ziemlich viel bewegen konnten. Letztlich ist mein Ziel eine Gesellschaft ohne Hierarchien …“ Morales wird in diesem Moment von einer Art Kirchenglockenläuten unterbrochen – keiner im Raum kann sich die Melodie erklären.
Über eine Minute schweigen wir. Die revolutionäre Power, die selbst in diesem ruhigen Moment von Morales ausgeht, ist dabei nicht das einzig Eindrucksvolle. Vielleicht sogar eher die freundliche Coolness, die sie ausstrahlt, und das unprätentiöse Nicht-beeindruckt-sein von einer Gesellschaft, die alles tut, um ihr und den Menschen, denen sie eine Stimme geben will, Steine in den Weg zu legen.
Für die Figuren ihres Romans ist das eine Form von Faschismus. Mit dem Begriff wird in dem Buch nicht gespart, geradezu verschwenderisch wirft vor allem Nati damit um sich. Morales: „Es gibt im Moment keine anarchisch-libertäre Organisation, die derart politisiert ist, dass sie mit Waffen auf die Straße gehen würde. Dieses Mittel haben wir also nicht, um uns zu verteidigen. Uns bleibt als Waffe der Selbstverteidigung vor allem die Sprache, obwohl auch sie von denen, die in der Gesellschaft die Macht haben, kolonialisiert ist. Davon müssen wir sie befreien.“
Die Jury entschied sich einstimmig für Morales’ Buch
Das tut Morales mit ihrem Roman, der tatsächlich teilweise in leichter Sprache verfasst ist, ohne Zweifel: Und sie macht Literatur unter anderem auf YouTube durch Lesungen in leichter Sprache für Menschen mit Lernbehinderungen zugänglicher. Interessant ist, dass Morales die leichte Sprache so gestaltet, dass sie zu einer ästhetisch-geladenen Waffe wird. In der deutschen Fassung des bei Matthes und Seitz erschienenen Romans dürfte das nicht zuletzt der Arbeit der Übersetzerin Friederike von Criegern zu verdanken sein, die bei der Preisverleihung ebenfalls ausgezeichnet wurde. Eine Besonderheit des internationalen Literaturpreises des HKW.
Der Autor Robin Detje, selbst Miglied der Jury, bezeichnete die Passagen in leichter Sprache als „Homerischen Gesang“, der sich durch das gesamte Buch zieht. Unter den sechs Kandidaten auf der Shortlist habe sich die Jury, so die Autorin Heike Geißler in ihrer ungewöhnlich warmherzigen Laudatio, mit „leidenschaftlicher Einstimmigkeit“ für „Leichte Sprache“ entschieden.
Cristina Morales will sich, wenn man sie fragt, nicht als Anarchistin bezeichnen (interessante Begründung: „Das wäre unanarchistisch.“), aber weit davon entfernt ist das, was sie sich wünscht und fordert nicht. Die Hierarchielosigkeit als politisches Ziel erkannte sie beim Tanzen, ihrer zweiten Passion neben dem Schreiben. Ihre Tanzgruppe sei völlig frei von Macht und Rangordnung. Auch das habe sie, neben Erlebnissen in der Hausbesetzerszene Barcelonas, politisiert.
Morales ist eine Kämpferin für die Freiheit und weiß genau, welche politischen Ziele sie sich darunter vorstellt. Sie ist wütend, aber nicht verbittert. Im Gegenteil, sie wirkt geradezu fröhlich und sprüht vor Energie. Sie sprüht, das nur nebenbei, auch buchstäblich: Texte sprayt sie immer wieder an Hauswände Barcelonas. Meistens sei das nicht unbedingt legal, erzählt sie grinsend. Nur einmal wurde sie explizit dazu aufgefordert zu sprayen, in einem Buchladen sollte sie eine Wand verzieren. Morales’ Werk wurde allerdings nur Tage später wieder entfernt. Offensichtlich verunsicherte Morales’ Botschaft: „todas putas“ (deutsch: alles Huren).