Lutz Seilers Versprechen vom großen Bademantelroman

Das Jubiläumsheft der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter aus dem Literarischen Colloquium Berlin kommt wie ein Lesebuch daher. 

Der Schriftsteller Lutz Seiler
Der Schriftsteller Lutz SeilerBerliner Zeitung/Paulus Ponizak

Erst Berlin, dann Marokko – in dieser Reihenfolge will der junge Mann seine Lebensorte wählen. Dass es bei Berlin blieb, hat sich später so ergeben in Lutz Seilers Roman „Stern 111“. Das Buch über den Dichter Carl, der vor dem Schreiben mauern und kellnern musste, gehört zu den besten, die von der Zeit des Umbruchs 1989/90 erzählen. Eine Zugabe findet sich jetzt in der Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“.

Zu Romanbeginn macht sich Carl auf den Weg nach Gera. In dem bisher unveröffentlichten Kapitel gibt es eine Nacht vor der Abreise. Da begegnet Carl auf dem Flur der Nachbarin. Beide tragen sie Bademäntel, sie einen flauschigen, weißen, er einen alten, grün-braun gestreiften. „Inzwischen war sein Frottee versteinert und überall hingen Fäden heraus – wahrscheinlich gibt es nichts Trostloseres als am Körper gealterte, mit den Jahren versteinerte Bademäntel“, schreibt Seiler. „Aber das ist ein Thema für sich, sehr speziell, ein Thema für groß dahinströmende, ausufernde Romane vielleicht.“

Streicheln löscht die Gedanken

Im August berichteten wir über das erste Heft zum 60. Geburtstag der Zeitschrift, nun ist das zweite erschienen. Die „Zeitmitschriften II“ widmen sich den Jahrzehnten ab 1990. Ingo Schulze und Thomas Hettche schickten Texte ein, Durs Grünbein und Ulla Lenze, Anja Kampmann und Shida Bazyar, viele mehr. Lutz Seiler erinnert sich, 1998 zum ersten Mal im Literarischen Colloquium Berlin (das die Zeitschrift herausgibt) gelesen zu haben. Danach veröffentlichte er Gedichte und Essays in der Spr.i.t.Z., allerdings nie Prosa. Deshalb schenkt er diesen Text. Der macht neugierig auf seinen großen Bademantel-Roman.

Der schwedisch-österreichische Weltbürger Aris Fioretos steuert „Kohlensäure“ bei, eine Sammlung von Formulierungen, etwa: „Sie strich mir über den Kopf, ich dachte immer, das sie meine Gedanken löschte.“ Nadja Küchenmeister greift die Idee Jürgen Beckers aus dem Vorgängerheft auf, der 60 Namen in ein Gedicht brachte. Ihr lyrisches Gebilde aus sechzig Strophen ist eine abgedrehte und doch verwirrend flüssig zu lesende Collage aus Gedichten von sechzig Kollegen. Und so erweist sich auch dieses Heft als anregendes Lesebuch.

Sprache im technischen Zeitalter. Heft 239. Böhlau Verlag, 22,50 Euro