„Russische Autoren, die für Putins Angriff sind, existieren für mich nicht mehr“
Der Schriftsteller Andrej Kurkow schreibt auf Russisch, aber in Russland sind seine Bücher verboten. Der Ukrainer bringt jetzt einen Kiew-Krimi heraus.

Leichen mitten auf der Straße, Schüsse aus unerwarteten Richtungen und ein Zusammenbruch der Verkehrsmittel: So sieht Kiew aus in dem neuen Roman von Andrej Kurkow. Der Bestsellerautor aus der Ukraine („Picknick auf dem Eis“, „Graue Bienen“) erzählt allerdings nicht von heute, sondern startet mit „Samson und Nadjeschda“ eine historische Krimireihe. Wir haben uns per Videochat zum Gespräch über die Parallelen zur Gegenwart und seine Arbeit als PEN-Präsident der Ukraine verabredet.
Herr Kurkow, wo befinden Sie sich?
Ich bin gerade in Trentino in Südtirol, morgen in Venedig und dann fliege ich nach Marseille.
Haben Sie die Hoffnung, bald wieder in die Ukraine zurückzukönnen?
In diesem Jahr werde ich noch sehr viel herumreisen, auch in die Ukraine. Im September oder Oktober wird das sein.
Wie leben, wie arbeiten Sie jetzt?
Ich schreibe zurzeit Essays zur Lage in der Ukraine, vor allem auf Englisch. Seit Kriegsbeginn habe ich bestimmt fünfzig oder sechzig Artikel in verschiedenen Ländern veröffentlicht. Ich nehme an vielen Diskussionen zum Thema teil oder gebe Interviews, wie gerade jetzt. Mit der BBC habe ich eine Podcast-Reihe produziert. Also, ich versuche als PEN-Präsident zu tun, was mir irgend möglich ist. Für fiktionale Texte habe ich im Moment keine Zeit. Ein Buch mit Texten über die Situation seit Dezember habe ich auch vorbereitet.
Das wird auf Deutsch im Oktober im Haymon-Verlag erscheinen: „Die Vermessung des Krieges. Aufzeichnungen aus der Ukraine“. Aber erst einmal bringt Diogenes ein anderes heraus, „Samson und Nadjeschda“. Kommt Ihnen die Veröffentlichung jetzt nicht seltsam aus der Zeit gefallen vor?
Nein, sonst hätte mich selbst der Stoff nicht interessiert. Ich habe schon zwei Teile dieser Reihe geschrieben, das ist jetzt der erste auf Deutsch. „Samson und Nadjeschda“ spielt zwar nach der Oktoberrevolution in der Zeit des Bürgerkriegs 1919, aber es gibt sehr viele Parallelen zu dem, was heute passiert. Die russischen Bolschewiki brauchten vier Versuche, die Ukraine zu okkupieren.
War es Ihr Anliegen, mit der Geschichte von heute zu erzählen?
An die Gegenwart habe ich dabei nicht zuerst gedacht. Aber man kann sie besser verstehen, desto mehr man über die Vergangenheit weiß, das stimmt. Ich habe ein ganzes Konvolut von Originaldokumenten aus dieser Zeit geschenkt bekommen. Die fand ich ideal, um das alltägliche Leben damals zu erzählen. Diese Details sind mir mindestens so wichtig wie die Handlung selbst.
Als ich las, wie sich Blut in die Gedanken mischt und man sich unter Gewehrsalven hindurchducken muss, kam mir Ihr letztes Buch in den Sinn, der Roman „Graue Bienen“, der den Krieg im Donbass als Hintergrund hat. Ist es insofern eine Fortsetzung, eine andere Erzählung vom Krieg?
Den Donbass hatte ich diesmal nicht im Sinn. Und dass es in Kiew wieder so werden würde, wollte ich mir damals nicht vorstellen. Ich wollte über Kiew schreiben, meine Heimatstadt, einige der Handlungsorte gibt es heute noch. Diese Bücher spielen in einer Zeit, in der man – wie heute – ganz auf die Gegenwart konzentriert war, um zu überleben, und nicht an morgen denken konnte.
Sie gelten als „ethnischer Russe“, ist das richtig?
Ja.
Ihr Geburtsort ist Leningrad, Sie kamen schon als Kind in die Ukraine, Sie schreiben aber auf Russisch. Sehen Sie das heute als Verpflichtung, die ukrainische Geschichte zu thematisieren?
Kiew ist meine Stadt, eine Stadt mit einer vielfältigen, bewegten Geschichte. Sie taucht in mehreren meiner Bücher auf. Das hat mit dieser Herkunft nichts zu tun. Ich bin politischer Ukrainer, so wie wir auch Krimtataren und andere Bevölkerungsgruppen in der Ukraine haben. Als ich die Dokumente las, fühlte ich mich selbst in die Vergangenheit versetzt. Das wollte ich vermitteln.

„Samson und Nadjeschda“, aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing, erscheint am 27. Juli (Diogenes, 368 Seiten, 24 Euro).
Die Originalausgabe ist schon vor zwei Jahren erschienen, wie waren die Reaktionen?
Dort sind die ersten beiden Bücher der Reihe schon raus. Aber ich muss Ihnen sagen, der ukrainische Buchmarkt existiert seit 2014 kaum. Selbst bekannte Autoren verkaufen nicht mehr als 1000 Exemplare pro Jahr. Buchrezensionen gibt es bei uns kaum in den Zeitungen, Lesungen hatte ich nicht wegen der Corona-Pandemie. Im Moment ist es tatsächlich nicht ganz einfach für mich, weil ich ja auf Russisch schreibe. Das akzeptiere ich.
Der Ukrainer Serhji Zhadan organisiert in Charkiw Hilfsgüter und wendet sich per Facebook an die Öffentlichkeit. Im Herbst wird er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen. Wird er denn in der Ukraine wahrgenommen?
Ja, er ist eine Kultfigur – allerdings auch für Leser, nicht für die gesamte Gesellschaft. Seine Bücher und meine haben ungefähr ähnliche Verkaufszahlen.
Sie sind Präsident der Schriftstellervereinigung PEN für Ihr Land. Einer der Auslöser für den schweren Streit im deutschen PEN war die Haltung zur Ukraine. Die Debatten gehen weiter, werden in offenen Briefen geführt. Wie beurteilen Sie das?
Da sieht man, wie ernst man die Gefahr nimmt. Viele europäische Intellektuelle haben Angst, eines Tages an ihrer Grenze als nächstes Land Russland zu haben anstelle der Ukraine. Denn sie ahnen, dass Putin nicht aufhören wird, wenn er jetzt erreicht, was er will. Die erhitzten Debatten zeigen, dass dieser Krieg ganz Europa betrifft, auch wenn er sich noch nur in unserem Land abspielt.
Der russische Autor Dmitry Glukhovsky ist jetzt Ehrenmitglied des neuen PEN Berlin. Andere russische Autoren unterstützen Putin. Wie raten Sie uns Lesern, jetzt mit russischer Literatur umzugehen? Erst zu schauen, wie hält er oder sie es mit dem Krieg?
Es steht Ihnen frei, wie Sie sich verhalten. Ich kann da nur für mich sprechen. Sorokin, Schischkin, Jerofejew – klar, solche kritischen Autoren akzeptiere ich. Sie denken, offene Briefe gibt es nur bei Ihnen? In Russland erschien kurz nach Kriegsbeginn am 4. März in der Literaturnaja Gaseta ein offener Brief von Schriftstellern, die Putins Angriff befürworteten, für mich existieren die nicht mehr.
Ihre Bücher dürfen in Russland nicht erscheinen, warum?
2005 begann das, wegen meines Romans „Die letzte Liebe des Präsidenten“ und wegen meiner Artikel zur Orangenen Revolution in der internationalen Presse. Ich würde auch nicht mehr versuchen, nach Russland zu fahren. Ich will es außerdem nicht.
Sie haben selbst lange auch die Politik der Ukraine kritisch beobachtet. Wie beurteilen Sie, dass Wolodymyr Selenskyj seinen alten Freund Iwan Bakanow, der seit 2019 Leiter des Geheimdienstes war, und die Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa entlassen hat?
Solche Intrigen oder was dahinter stecken mag, interessieren mich im Moment nicht. Die wichtigen Nachrichten kommen von der Front. Die verfolge ich. Bakanow war kein Militär, hatte keine Vergangenheit beim Sicherheitsdienst. Ich habe das damals kritisch gesehen, als er ernannt wurde. Und ich werde natürlich diese Personalpolitik weiter kritisch beobachten, solange nicht Experten besetzt werden.
Vor Kurzem sprachen Sie in Berlin, als Sie den Theodor-Wolff-Preis an das Zentrum für Pressefreiheit in Lwiw übergaben. Sie sagten: „Die Zukunft Europas hängt von Journalisten und den Themen ab, die sie ansprechen. Und auch die politischen Entscheidungen der Regierungen Deutschlands, Frankreichs, Italiens und anderer Länder hängen von Journalisten ab.“ Wie nehmen Sie die journalistische Arbeit im Moment wahr?
Das ist schwer zusammenzufassen, in jedem Land ist es anders. Es gibt in Deutschland Medien, die nach wie vor sehr aufmerksam dafür sind. In Italien ist mir jetzt aufgefallen, dass mehrfach russische Politiker im Fernsehen aufgetreten sind und Putins Politik erklären durften. Allgemein gesehen habe ich nicht den Eindruck, dass das Interesse nachlässt. Überhaupt finde ich, dass in der heutigen Situation Journalisten wichtiger sind als Schriftsteller. Es ist wichtig, dass sie in die Ukraine kommen, mit eigenen Augen sehen, was passiert, und berichten.
Gibt es etwas, das Sie sich von Ihren Lesern in Deutschland wünschen?
Mir ist aufgefallen, dass die klassische russische Literatur weit verbreitet ist, aber über die ukrainische Literatur und Geschichte noch immer wenig bekannt ist. Also, lesen Sie! Und da empfehle ich vor allem Sachbücher, also von Timothy Snyder, Anne Applebaum, Serhii Plokhy, Philippe Sands, aber auch von Karl Schlögel aus Deutschland und Martin Pollack aus Österreich. Deren Bücher zur ukrainischen Geschichte helfen zu verstehen, was heute passiert und welche Hintergründe die russische Aggression hat.