Ana Marwan ist die neue Bachmann-Preisträgerin
Beim Wettlesen in Klagenfurt überzeugt die in Slowenien geborene Autorin mit ihrer traumtänzerisch wirkenden Haltung zur Sprache.

Ein zarter, aber nicht weicher Text gewann am Sonntagmittag in Klagenfurt den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis, Ana Marwans „Wechselkröte“. Weil die Dramaturgie beim Wettlesen der Tage der deutschsprachigen Literatur für die 46. Ausgabe modifiziert wurde, erfuhr man von diesem Hauptpreis gegen die bisherige Üblichkeit zuletzt.
Die Preisverleihung war bisher aus anderen Gründen ein doller Nervenkitzel, durch Live-Abstimmungen im Saal, bei denen die taktischen Überlegungen der Jury zutage traten.
Dass dadurch interessante Texte eventuell nach unten durchgereicht wurden (Hauptsache, die oder der nicht, also wähle ich notfalls die oder den), sorgte aber für Unmut. Darum wurde erstmals nach einem Punktesystem vorab entschieden. Eine ganze Weile konnte es darum so aussehen, als würden Männer (diesmal ohnehin in der Mehrheit) das Rennen zum ersten Mal seit 2008 unter sich ausmachen.
Mit der Wechselkröte im Pool
„Wechselkröte“: Eine Frau so einsam und um sich kreiselnd, wie man es sich in der Covid-Zeit angewöhnen konnte oder musste – „es war einmal so, dass ich immer für jeden ein frisches Gesicht hatte“ –, ist schwanger. „Das ist echt ein Wunder“, sagt der Arzt, und wir wissen auch nicht so recht. Die Frau ist unruhig und darauf bedacht, das Richtige zu tun, nicht nur, aber auch mit der Wechselkröte im Pool. Das ist nicht einfach. „Oft glaubt man, es sei alles eine Sache der Entscheidung, des Willens, aber nein. Nein. Nicht einmal ich selbst kann jedoch sagen, kann berichten, worin die Unmöglichkeit liegt. Irgendwo zwischen dem Gedanken und der ersten Handlung, natürlich, aber dieser Raum ist dunkel und unendlich.“
Der recht heftigen Frage „Wie würde ich leben, würde ich leben?“ widmet sie sich ratlos, mit einem nüchtern melancholischen Appell, sich aufzuraffen. „Meine Vorstellungskraft muss das Metaphorische verlassen, zum Konkreten übergehen.“ Das gelingt nur bedingt. Die Unsicherheit der Frau bleibt unbestimmt, während die in Niederösterreich lebende Schriftstellerin Marwan, 1980 in Slowenien geboren, eine traumtänzerisch wirkende Haltung zur Sprache einzunehmen scheint. Die natürlich wie jeder gelungene Traumtanz in Wahrheit eine souveräne Haltung ist. Die Autorin lasse sich von der deutschen Sprache antreiben und treibe zugleich das Deutsche an und vor sich her, so Juror Klaus Kastberger. Herb und abschließend das Ende vom Lied.

Alexandru Bulucz lobt die zivilisierte Jury
Interessant, dass der mit 12.500 Euro dotierte Deutschlandfunk-Preis an einen Text ging, der ebenfalls über das Wunder der deutschen Syntax Stabilität und Kontrolle sucht. Der in Berlin lebende Alexandru Bulucz, 1987 in Rumänien geboren, lässt einen Wartenden im Café zurückdenken und auf ein kommendes Gespräch vorgreifen, ein Gespräch über früher. Es führt in den rumänischen Hungerwinter 1985, in eine Gegend „einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“. Das ist auch der Titel des Textes, durchaus spöttisch zu verstehen, was die oft vage Einschätzung „von hier aus“ betrifft, wenn es um Mittel- und Osteuropa geht.
Die Juryvorsitzende Insa Wilke betonte die Fragilität und Souveränität, die menschliche und ästhetische Klugheit des Textes. Bulucz nutzte das neu hinzugefügte, weitgehend vertändelte Miniatur-Interview zur Preisverleihung, um die „faire, zivilisierte“ Jurydiskussion zu würdigen. Der Eindruck, in eine Schlangengrube geschmissen zu werden, hat sich erhalten. Von außen ist man sich da auch nicht immer gewiss.
Juan Guses so fantastische wie mitten aus der Gegenwart hervorploppende Geschichte „Im Falle eines Druckabfalls“ erhielt den mit 10.000 Euro dotierten Kelag-Preis. Im Taunus bei Kronberg, so erzählt er, ist eine Gruppe offenbar bislang unentdeckter, isoliert lebender Menschen gesichtet worden. Internationale Expertenteams setzen sich auf ihre Fährte. Guse, 1989 in Seligenstadt nahe Frankfurt am Main geboren, exerziert diese Erforschung klug durch in einer Welt, in der Menschen in Pfützen verschwinden, Rotwild verendet und Achtsamkeit sich in der Zufriedenheit mit einem Salatdressing erschöpft. Ein ausgesandtes Team findet sich an einem perfekt nachgebauten Frankfurter Flughafen wieder. Und das Publikum mit einem Schlusssatz für die Ewigkeit: „Noch nie hatte sie eine solche Angst vor einer Toblerone.“ Jurorin Mara Delius lobte die schwebende Ironie, die Kunst der Auslassung.
Das Publikum entscheidet sich für Elias Hirschl
Leon Engler, Jahrgang 1989, in Berlin und Wien wohnend, bekam für seine nicht komplizierte, aber kompakte und gut gebaute Geschichte „Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten“ den mit 7500 Euro dotierten 3sat-Preis: Ein junger Schauspieler fährt zu einem Werbe-Shooting für eine vollautomatische Kaffeemaschine. Jenen Barista, den er darstellen soll, bräuchte es also nicht einmal rein theoretisch. Er habe zunächst an Holden Caulfield (aus dem „Fänger im Roggen“) gedacht, so Juror Philipp Tingler bei seiner Laudatio, dann aber glücklicherweise nicht mehr.
Der mit 7000 Euro dotierte Publikumspreis ging an den Wiener Elias Hirschl und seine rasante Erzählung „Staublunge“ über Wahn und Tragik des Start-up-Prekariats. Er hatte am Sonnabend als letzter der 14 Teilnehmer des Wettbewerbs gelesen. Da seine Erzählung wirklich nicht leer ausgehen durfte, war es, als hätte eine unsichtbare Macht das Preisgeschehen halbwegs gelenkt. „Staublunge“ verdeutlichte auch noch einmal, wie das Ungemütliche und Brüchige sowie der subtil vermittelte Schrecken das Geschehen dominierten, auch wenn dieses angesichts der Schrecken der Zeit zuweilen harmlos wirken konnte. Kein lautstarker Wettbewerb.
Die Gruppendynamik im ersten Vor-Ort-Wettbewerb nach zwei digitalen Ausgaben war geprägt von einer neuen, luftigeren Zweiteilung: Vorgelesen wurde draußen im Freien, von wo aus die Kandidaten und Kandidatinnen danach auch zuhörten. Die Jurymitglieder diskutierten im Saal. Erst im Verlauf der Tage wurden während der Debatte auch die Autoren draußen auf einem Bildschirm sichtbar. Das änderte einiges, die durchaus reizvolle Spannung, bei der das Publikum sonst applaudierend oder murrend Partei ergreift, hatte sich im Innenraum erledigt. Es wurde früher mehr gelacht, mehr reagiert. Im Garten herrschte dafür Halligalli.
In der Sieben-Personen-Jury flämmelt derweil diese spezielle Schulhofmischung, ein paar noch kindlich-eitel-unbedarft inklusive Null-Ironie-Politik, die anderen schon groß. Schade manchmal, wenn die Großen ständig aufgehalten werden, weil wieder einer beleidigt ist. Denn im intellektuellen Gefälle, das sich unter Erwachsenen in einer solchen Situation auftut und das sich ja auch nicht mehr ohne Weiteres auswachsen dürfte, zeigte die professionelle Literaturkritik, was sie an Analyse-Instrumenten zu bieten hat. Den Satz „Ich bin von diesem Text irrsinnig begeistert“ will man hingegen jetzt länger (ein Jahr, mindestens) nicht mehr hören.
Dass die Kriterien sich in den Gesprächen ohne Unterlass verschieben und neu formieren, wird in Klagenfurt zwar oft gerügt, ist aber angesichts der unwiderstehlichen Unterschiedlichkeit von Literatur kein relevanter Einwand. Selbstverständlich will jeder, der zuhört, sofort dazwischenreden, ärgert sich auch oft fürchterlich und weiß es eh besser, findet aber beim Mitlesen auf Twitter ein erfrischendes Ventil. Klagenfurt ist so ein kurzer Moment im Jahr, in dem man beim Lesen und Überlegen verhältnismäßig wenig allein ist.