Annie Dillard schreibt besonders über Natur:„Einen Stein zum Sprechen bringen“
Die 14 Texte der Pulitzer-Preisträgerin in diesem Buch lenken unseren Blick. Sie verklären Tier, Pflanze und Landschaft nicht.

Unsere Blicke bohrten sich ineinander und steckten fest: Annie Dillard beschreibt den Augenkontakt mit einem Wiesel als intensiven Moment. „Er nahm uns die Luft. Er fällte den Wald, entrückte die Felder und leerte den Teich; die Welt verrann ins schwarze Loch der Augen.“ Mensch und Tier kommen sich nahe, bleiben einander aber auch fremd. Wiesel sind schnelle, fleischfressende Jäger mit starken Beißreflexen, sie folgen ganz anderen Impulsen als wir.
Annie Dillard ist eine Ikone des amerikanischen Schreibens über die Natur. Anfang der 70er-Jahre, da war sie 27 Jahre alt, zog sie sich für ein einsames Jahr in die Virginia Blue Mountains zurück und schrieb darüber so klar, kühn und schön, dass sie für ihr Buch den Pulitzer-Preis bekam. Seither veröffentlichte sie eigenwillige, poetische Prosa und Gedichte, lehrte Literatur und kreatives Schreiben und verschwand immer wieder für längere Phasen in entlegene Häuser und Landschaften.
„Leben wie ein Wiesel“ ist der erste Text in „Einen Stein zum Sprechen bringen“, einer Sammlung kurzer Prosastücke, die auf Englisch schon 1982 erschien. Die meisten der 14 Texte in diesem Buch erzählen von Reisen, führen ins Quellgebiet des Amazonas oder an den Nordpol, auf die Galapagosinseln, an nordamerikanische Strände oder auf im Meer treibende Mangroveninseln. Sie fangen Lichtreflexe ebenso ein wie die Krümmung eines Flügels oder Baumstamms, die Schattierung eines Fells. Die Begegnungen mit der Natur verbinden sich mit großen Fragen, zum Beispiel der, was es hieße, wie ein Wiesel im Hier und Jetzt zu leben, anstatt ganz menschlich zu planen, zu hoffen und am Ende doch zu scheitern.

Ihr Blick geht in die Weite
Einer der Texte erzählt abwechselnd von Polarexpeditionen und einem Gottesdienstbesuch, eine gewagte Mischung, aber sie funktioniert. Wenn Dillard mit sanftem Spott die unpraktische Ausrüstung der Gentleman im Packeis (Collegefahnen! Silberlöffel mit Familienwappen!) beschreibt und knackende Pastorenknie und ein „brandneues Kirchenlied“ einer Hippie-Gesangstruppe in der Dorfkirche, zeigt sie nicht nur ihr Talent, große Bögen zu schlagen, sondern auch ihren Humor. Die Ausgesetztheit in den endlosen Weiten zufrierender Meere nimmt sie deswegen nicht weniger ernst.
Menschen sind bei Annie Dillard immer ziemlich klein und ganz schön verloren in einem Universum, das allenfalls ein Gott überblicken mag. Ihr Bericht einer Sonnenfinsternis zeigt kein angenehmes Frösteln im plötzlichen Dunkel, sondern die schlagartige Einsicht in die Weite des Alls, in der unser Planet mit einer dünnen Schicht Leben überzogen durch die Dunkelheit rast. So ein weitgestellter Fokus ist ungewohnt in Zeiten, in denen wir den Homo sapiens als größte Bedrohung der Erde betrachten und einen Weg zurück zur Natur suchen. Dillard zeigt eben diese Natur als wenig heimelig. Auch ihre Interpretation menschlicher Beziehungen, etwa zwischen Mutter und Tochter in der Geschichte „Asse und Achten“, verweigert jedes Kuschelklischee. Stattdessen erkundet sie den spröden Respekt zwischen Erzählerin und „dem Kind“.
Dillards Schreiben wirkt angesichts weichgezeichneter Instagram-Landschaften und besinnlicher Waldbäder wie eine kalte, das Denken anregende Dusche. Und es schließt heitere Momente überhaupt nicht aus: Auf den Galapagos-Inseln spielt eine Seelöwin mit der Erzählerin im Meer und schaut ihr dabei entspannt in die Augen.
Annie Dillard: Einen Stein zum Sprechen bringen. Aufbrüche und Begegnungen. Aus dem Englischen von Karen Nölle. Naturkunden, Matthes & Seitz, Berlin 2022, 180 Seiten, 20 Euro