Nach Klage: Zeitschrift Sinn und Form kann vorerst nicht erscheinen
Die konkurrierende Zeitschrift Lettre International klagte wegen eines Wettbewerbsvorteils. Nun muss die Akademie der Künste als Träger handeln.

Die Guten gegen die Guten, so platt könnte man einen Rechtsstreit überschreiben, der derzeit in der literarischen Öffentlichkeit für große Unruhe sorgt: Lettre International gegen Sinn und Form. Die Lage ist vertrackt und der vorläufige Ausgang wirkt traurig, ja er erscheint falsch: Laut einem Urteil des Landgerichts Berlin vom 23. Februar 2023 ist es der Akademie der Künste derzeit untersagt, die Zeitschrift Sinn und Form herauszugeben. Renommierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Durs Grünbein, Thomas Hettche, Katja Lange-Müller und Julia Schoch unterstützen den Beirat der Zeitschrift und interpretieren die Klageerhebung durch Lettre International als Angriff auf „die Vielfalt des literarischen Lebens“.
Die Akademie der Künste publizierte ihre Mitteilungen dazu am Mittwoch, nachdem ihr am Vortag die Urteilsbegründung zugestellt worden war. „Hintergrund ist eine wettbewerbsrechtliche Klage der Zeitschrift Lettre International und ihres Herausgebers Frank Berberich, der Sinn und Form vorwirft, eine ,Staatszeitschrift‘ zu sein.“ Der Vorwurf klingt nicht nur hart, sondern geradezu verquer, wenn man das Profil und die Geschichte der Zeitschrift kennt. Auf Nachfrage sagt Berberich am Telefon, er habe nichts gegen Sinn und Form, nur gegen den Charakter von deren Finanzierung. Von „gut gegen gut“ will er nichts hören, es gehe ihm nicht um moralische Kategorien, sondern um verfassungs- und wettbewerbsrechtliche Fragen.
Die Pandemie als Katalysator
So oft hieß es in den vergangenen zwei Jahren, die Covid-19-Pandemie sei ein Katalysator für gesellschaftliche Prozesse. Im Rechtsstreit der beiden angesehenen Kulturzeitschriften findet sich das auf exemplarische Weise vorgeführt: In der Hochzeit der Corona-Maßnahmen, die die Menschen zu Hause und Kultureinrichtungen geschlossen hielten, wurde Frank Berberich, dem Gründer der Zeitschrift Lettre International, durch das Büro der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien mitgeteilt, er könne für seine Arbeit anders als Theater oder Literaturhäuser keine Unterstützung durch Förderprogramme wie „Neustart Kultur“ bekommen.
Zwar gingen auch für Lettre die Verkäufe – die stark von Direktverkäufen in Kneipen etc. abhängig sind – und vor allem die Anzeigenerlöse zurück, aber die per Grundgesetz garantierte Unabhängigkeit der Presse bedeutet nicht nur, dass etwa die Berliner Zeitung sich selbst beziehungsweise durch den Berliner Verlag zu tragen hat, sondern eben auch, dass eine exklusive intellektuelle Zeitschrift mit literarischen Reportagen, Foto-Essays, Interviews und kulturpolitischen Kommentaren nicht durch Staatsgeld subventioniert werden kann. Weil sie eine Zeitschrift ist und kein Literaturhaus oder Theater.
Lettre International, 1988 in West-Berlin gegründet, international vertrieben, hatte den eigenen Mediadaten zufolge zuletzt eine verkaufte Auflage von 16.500 Exemplaren. Sie trägt sich durch den Verkauf und durch Anzeigen, zu bezahlen sind ein Büro, Mitarbeiter, Honorare für Autoren, Übersetzer und Fotografen, der Druck und das (immer teurer werdende) Papier.
Eine widerständige Zeitschrift
Sinn und Form, 1949 mit Lizenz der Sowjetischen Militäradministration gegründet, war seit Ende der 50er-Jahre der Akademie der Künste zu Berlin (DDR) angegliedert und wurde im Zuge der Vereinigung 1991 von der nunmehr gemeinsamen Berliner Akademie der Künste übernommen, was damals gar nicht so einfach war. Der widerständige Geist der Zeitschrift mit Erstveröffentlichungen von Schriftstellern, Archivfunden, Briefwechseln auch unter der strengen Kulturpolitik der DDR rettete sie in die vereinte Gesellschaft. Heute erscheint sie alle zwei Monate in einer Auflage von 3200 Stück, Chefredakteur ist seit 2013 Matthias Weichelt. Die Akademie der Künste ist dem anwaltlichen Gutachten zufolge, das der Lettre-Chef in Auftrag gegeben hat, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, finanziert „im Wesentlichen durch Mittel des Bundeshaushalts“. In der Lesart des Anwalts wird Sinn und Form demzufolge staatlich unterstützt – während man Lettre International nicht einmal zu Corona-Zeiten Staatshilfen zubilligte.
In seiner Urteilsbegründung nahm das Landgericht Berlin weniger Anstoß an der institutionellen Förderung der Akademie der Künste oder daran, dass diese eine Literaturzeitschrift herausgibt, sondern an einer seiner Auffassung nach fehlenden diesbezüglichen Regelung in der Satzung. So oder so: Der Verkauf von Sinn und Form musste gestoppt werden. Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Akademie der Künste, ist über die Entscheidung bestürzt und teilt mit: „Die Aufgabe der Akademie ist es, die Künste zu fördern und die Sache der Kunst in der Gesellschaft zu vertreten. Die Herausgabe dieser renommierten Zeitschrift ist ein entscheidender Teil dieser Aufgabe.“ Berberich hält dagegen, dass seine Zeitschrift ohne eine solche Institution im Rücken am Markt um dieselben Käufer konkurriere.
Sinn und Form teilt auf seiner Website mit, das Landgericht stütze sein Urteil „auf rein formale Gründe, denen die Akademie der Künste selbst abhelfen kann“. Das klingt einfacher, als es sein dürfte. Um beide Zeitschriften wettbewerbsrechtlich gleichzustellen, müsste das Finanzierungsmodell von Sinn und Form geändert werden. Und nicht nur hier. Berberich kritisiert ebenfalls den Wettbewerbsvorteil der Zeitschrift Kulturaustausch, die am Institut für Auslandsbeziehungen angesiedelt ist, und des Online-Formats LCB diplomatique, betreut vom Literarischen Colloquium Berlin. Es scheint, als sei dies alles nur der Anfang einer längeren und widersprüchlichen Auseinandersetzung. Das Ganze erinnert an die seit 2011 immer wieder aufflackernden Auseinandersetzungen um die „presseähnlichen“ Internetauftritte der öffentlich-rechtlichen Medien.