Brigitte Reimanns Roman „Die Geschwister“: Argumente für die Flucht aus der DDR

Die Neuausgabe des Romans zeigt, wie mutig die Autorin 1963 ein Thema aufgriff, über das sonst geschwiegen wurde: Der Riss durch Deutschland.

Die Schriftstellerin Brigitte Reimann, sie starb vor 50 Jahren. 
Die Schriftstellerin Brigitte Reimann, sie starb vor 50 Jahren. Zentralbild/dpa

Zu dritt sind sie aufgewachsen: Konrad, Uli und Elisabeth. Der Roman „Die Geschwister“ handelt von dem Bruch zwischen ihnen, von einem Riss, für den die Weltgeschichte verantwortlich ist. Wie Christa Wolf mit „Der geteilte Himmel“ nahm sich Brigitte Reimann eines Themas an, das Ende der 1950er-, Anfang der 60er-Jahre vor aller Augen lag, aber kaum in die Kunst fand. Die Teilung Deutschlands als Folge des Krieges, die Trennung der Systeme beschäftigte die Menschen privat. In die Medien gelangte sie nur ideologisch gefiltert.

Brigitte Reimann notiert in ihr Tagebuch am 29. April 1960: „Warum wird es von keinem gestaltet, warum schreibt niemand ein gültiges Buch? Furcht? Unvermögen?“ Sie sah das Thema um sich her, erlebte es direkt durch die Flucht ihres Bruders Lutz. Furchtlos stellte sie sich der Herausforderung. Jetzt gibt es Gelegenheit, das Buch neu zu entdecken und zu sehen, wie viel Zündstoff darin steckte.

Vor 50 Jahren starb Brigitte Reimann

Die Neuausgabe passt zum Jubiläumsjahr. Am 21. Juli vor 90 Jahren wurde Brigitte Reimann geboren, am 20. Februar vor 50 Jahren ist sie an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. Ihr Werk hat Leserinnen und Leser mehrerer Generationen beeinflusst und es ist noch lange nicht veraltet. Gerade wird die Autorin erstmalig für den englischsprachigen Buchmarkt entdeckt – und zwar mit einer Übersetzung der „Geschwister“.

Besonders ist die Neuausgabe des 1963 erstmals publizierten und 1969 mit sprachlichen und stilistischen Korrekturen erschienenen Buches auch, weil sich die Herausgeberinnen Angela Drescher und Nele Holdack auf das Urmanuskript stützen konnten. Mehrere Kapitel wurden im Frühjahr 2022 zufällig im Keller des Hauses entdeckt, in dem Brigitte Reimann 1960 bis 1968 gelebt hatte. Es fand sich, so heißt es im Nachwort „unter einer Treppe in einer Art Harry-Potter-Verschlag“. Die Mitarbeiter der Sanierungsfirma erkannten, dass Hefte und Manuskriptblätter nicht in den Papiermüll gehörten.

Brigitte Reimann war nach „Hoywoy“ in der Lausitz gezogen, um zusammen mit ihrem Mann Siegfried Pitschmann im Braunkohlekombinat Schwarze Pumpe zu arbeiten und die Arbeiter zu erleben. Das eint sie mit ihrer Erzählerin Elisabeth, die Kunst studiert hat und dann ihr Atelier in einem Großbetrieb bezogen hat. 

Die Kapitel aus der Arbeitswelt lassen den Roman nicht nur historisch bedeutend, sondern sogar aktuell erscheinen. Ein wegen seiner Verdienste als alter Kommunist geschätzter Mann sieht sich von der jungen Malerin bedroht. Er greift nicht ihre Kunst an. Er setzt über sie in Umlauf, dass sie nicht zum Modellsitzen in ihrer Wohnung empfangen würde, sondern „eine intellektuelle Nutte“ sei. „Jetzt kannst du einpacken, dachte ich“, schreibt Reimann. „Er hat das primitivste Mittel gewählt, um dich zu erledigen, das primitivste und wirksamste Mittel, du kannst zusehen, dass du verschwindest …“

Mehr als ein Zeitdokument

Doch als hätte Elisabeth nicht genug Probleme im Betrieb, kommen ihr durch die Politik die Brüder abhanden. Erst geht Konrad rüber in den Westen, findet in einer Werft bei Hamburg einen Job, hat bald ein Auto – worauf er in der DDR hätte Jahre warten müssen. Dieser Bruder, fünf Jahre älter als Elisabeth, ist ein Verlust, der sie ärgert. Sie nimmt es ihm übel, dass er sich nicht engagierte für den jungen Staat, nicht helfen wollte, Probleme zu lösen. Dass aber auch Uli gehen will, mit dem sie so eng war, als wären sie Zwillinge, erschüttert die Erzählerin. Er informiert sie erst, als alles schon geplant war, hat vorher also gelogen – „es war dieses Gewicht, das die Last auf meinem Herzen unerträglich machte“.

Die Position der Erzählerin ist klar, sie will, dass das sozialistische Experiment gelingt. Doch Reimann gibt auch den Brüdern Raum. Die sind keine verbohrten Klassenfeinde, sondern haben erfahrungssatte Argumente, die mehr als nur die Sehnsucht nach einem Auto umfassen. So direkt wurde die Situation in der DDR damals und später nicht öffentlich diskutiert. Brigitte Reimann wird heute vor allem für ihren posthum veröffentlichten Roman „Franziska Linkerhand“ und die Tagebücher verehrt. Aber auch „Die Geschwister“ sind mehr als ein Zeitdokument. Die Autorin brachte „die Tragödie unserer zwei Deutschland“ in eine lebendige, reflektierte, spannende Erzählung.

Brigitte Reimann: Die Geschwister. Aufbau, Berlin 2023. 214 Seiten, 22 Euro

Die Schauspielerin Jördis Triebel liest aus dem Roman: 8. März, 20 Uhr, Pfefferbergtheater