Herr Wohlfahrt, wie geht es der Poesie in diesen Zeiten?

„Da liegt Europa“ ist das Motto des Poesiefestivals ab Freitag. Tucholsky fragte: „Wie sieht es aus? Wie ein bunt angestrichenes Irrenhaus.“ 

Thomas Wohlfahrt, Leiter des Hauses der Poesie Berlin
Thomas Wohlfahrt, Leiter des Hauses der Poesie BerlinMirko Lux

Berlin-Am Freitag beginnt das Internationale Poesiefestival Berlin, und der Programmkalender sieht voll aus wie eh und je. Die Bücherfrage der Woche richtet sich an den Leiter des Hauses der Poesie Thomas Wohlfahrt: Zeigt das Festival die Lage der Poesie in diesen Zeiten?

Thomas Wohlfahrt: Das Poesiefestival, es ist schon das 22., führt vor, was Poesie kann – immer schon und erst recht in diesen Zeiten. Nehmen wir die Berliner Rede zur Poesie, die Johannes Jansen hält, das ist ein Gesang der Einsamkeitssuchbewegung und -findung, sie handelt davon, wie ein Dichter in eine Depression gerät und wie er herauskommt. Jansen zeigt, was große Lyrik vermag: das Leidende, Traurige, das Tröstende, Emphatische und auch das Visionäre. Das haben wir in der Akademie der Künste aufgenommen. Denn das Festival wird wieder online stattfinden.

Selbst wenn wir es wegen der guten Zahlen jetzt hätten analog machen wollen, hätten viele Dichter nicht reisen können. Die Veranstaltungen für die Berliner Kieze „Poet‘s Corner“ haben wir aber in den September verlegt, so dass dann zusammenkommt, was zusammengehört: Vortrag und Publikum.

Thematisch widmen wir uns diesmal Europa, da gibt es genug Schmerzstellen. Das Motto „Da liegt Europa“ geht zurück auf ein Gedicht von Kurt Tucholsky. Es spielt auf die Vielfalt des Kontinents und seine Ambivalenzen an und geht so weiter: „Wie sieht es aus? Wie ein bunt angestrichenes Irrenhaus.“ 1932 schrieb er das.

Versschmuggel mit Dichtern aus Belarus

Den Eröffnungsvortrag hält Can Dündar, der türkische Journalist, der in Deutschland im Exil lebt. „Europas Vielfalt hat keine Haut“, hat er ihn überschrieben. Der Versschmuggel, also der Übersetzerworkshop, wird sich Belarus widmen. Sechs Dichter aus dem deutschsprachigen Raum treffen auf sechs belarussische Dichter. Auch andere Schauplätze Europas interessieren uns, immer von der Sprache ausgehend, denn das Material von Poesie ist Sprache. So schauen wir auf das Gälische, das durch den Brexit eine neue Bedeutung bekommt. Die Fliehkräfte, die wirken, wenn Sprache ignoriert wird, sieht man in Spanien; wir haben Dichterinnen aller vier Sprachen eingeladen. Wir beschäftigen uns mit den Sprachen des Territoriums, das einmal Jugoslawien war: Bosnisch, Montenegrinisch, Kroatisch und Serbisch. Sie sind eng verwandt, was bedeutet es, wenn heute das Trennende betont wird?

Aus all diesen Prozessen sind Filme entstanden, die nach dem Programmkalender online gestellt werden. Man kann für drei Euro die einzelne Veranstaltung buchen oder mit dem Festivalpass zwei Monate Zugang zu allen Beiträgen haben. Das ist ein kleiner, eher symbolischer Preis, der auch zeigt: Da steckt Arbeit dahinter.

Poesiefestival Berlin, 11. bis 17. Juni auf poesiefestival.org, Festivalpass 19 Euro