Kristof Magnusson über Wilhelm Genazino: Ein Buchhalter der Erinnerung
In Berlin wird an den großen Flaneur Wilhelm Genazino erinnert. Kristof Magnusson ist mit einer persönlichen Anekdote dabei – und Hochachtung.

In der Reihe „Stoffe: Woraus besteht die Gegenwartsliteratur?“ des Literarischen Colloquiums Berlin sprechen am Dienstag mehrere Autoren über den 2018 verstorbenen Wilhelm Genazino. Seine Romane wie „Ein Regenschirm für diesen Tag“ oder „Die Liebesblödigkeit“ zeigten ihn als Flaneur und guten Beobachter. Mit dabei ist der Schriftsteller Kristof Magnusson, der zuletzt den Roman „Ein Mann der Kunst“ veröffentlichte. Wir möchten gern wissen: Was bedeutet Ihnen Genazino?
Kristof Magnusson: Da ist zunächst eine persönliche Erinnerung. Als ich mich 1998 um die Aufnahme am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig bewarb, saß Wilhelm Genazino mit in der Prüfungskommission – was mich erschreckte. Denn ich hatte einen sehr fiesen, zynischen Text, der mir zum Sound der 90er-Jahre zu passen schien, in dem es auf sehr gemeine Art um einen dicken Menschen ging. Und Genazino war zu der Zeit ziemlich korpulent. Ich dachte, ich kann das vergessen. Aber statt mit einem Beleidigtsein begegnete er mir mit Beobachtungen. Er hat neugierig sehr viele Fragen gestellt über die Motivation, die Gedanken hinter dem Text, die Entstehung.
Anlass des Abends ist ja ein Buch, das jetzt aus seinem Nachlass herausgegeben wurde: „Der Traum des Beobachters“. Das ist ein gutes Sprungbrett, um sich in das Werk des Autors zu begeben. Es zeigt, wie besonders er gearbeitet hat, anders als alle Kolleginnen und Kollegen, die ich kenne.
Wilhelm Genazino ist viel herumgelaufen, war in Kneipen, in Cafés, in Bordellen, hat immer genau hingeschaut, Gespräche belauscht, Szenen verfolgt und sich dann Notizen gemacht. Das ist artgerechtes Schriftstellerverhalten, kann man sagen. Aber Genazino hat diese Notizen später alle auf der Schreibmaschine abgetippt, er hat sie datiert, mit einem Schlagwort versehen und innerhalb einer Systematik geordnet und abgeheftet – 50 Jahre lang! Das sind keine Zettelkästen, wie man sie kennt, sondern 38 Aktenordner, eine Erinnerungs-Buchhaltung in Anekdoten und kleinen Szenen. Womöglich hat er auch etwas über seine Leipziger Prüflinge aufgeschrieben, das ist jetzt nicht in der Auswahl enthalten.
Wenn man ein paar Bücher von ihm kennt, liest man den „Traum des Beobachters“ mit großem Gewinn: Es ist, als bekäme man jetzt die ganzen Zutaten für die Romane.
Gespräch mit Helmut Böttiger, Kristof Magnusson und Annette Pehnt am Dienstag, 31. Januar, 19.30 Uhr, LCB, Am Sandwerder 5