Als Adam Zagajewski zum Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gewählt wurde, bat er darum, auf die übliche Vorstellungsrede vor den Kollegen verzichten zu dürfen. Er las stattdessen ein Gedicht, das damals, 2015, bereits 20 Jahre alt war, ins Deutsche übertragen von dem großen Vermittler der polnischen Literatur, Karl Dedecius. „Selbstbildnis“ übertitelt, beginnt es so: „Zwischen Computer, Bleistift und Schreibmaschine/ vergeht mir ein halber Tag.“ Er wohne „in fremden Städten“, lässt er das lyrische Ich sprechen. In der Musik von „Bach, Mahler, Chopin, Schostakowitsch“ finde er „Kraft, Schwäche und Schmerz, die drei Elemente./ Das vierte hat keinen Namen.“ Und später heißt es: „Mein Land hat sich von einem Übel befreit. Ich wollte,/ dem würde noch eine Befreiung folgen./ Ob ich nützlich sein könnte dabei? Ich weiß nicht.“
Darin sind die Themen und Fragen gefasst, die das Leben und damit das ganze Werk des Dichters und Essayisten prägten, der am Sonntagabend im Alter von 75 Jahren in Krakau gestorben ist. Er gab damals noch ein paar erklärende Nachsätze ab, etwa, dass er denselben Komponisten weiter die Treue halte, es allerdings viel mehr seien, „Gedichte sind aber keine Kataloge“. Nach Jahren des Exils (begonnen 1981, also mit Verhängung des Kriegsrechts) in Paris, Houston und Chicago lebte er wieder in Polen. „Mein Land, dessen neu erworbene Freiheit ich damals besingen konnte, kennt jetzt neue Probleme, neue Gefahren, Versuchungen einer milden Diktatur. Die Geschichte, die meistens bitteren Geschmack hat, ist wieder da.“
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Mit dem bitteren Geschmack der Geschichte wuchs er auf. In dem Essay „Zwei Städte“ schreibt er von einem Besuch in Lemberg, wo er am 21. Juni 1945 geboren wurde, und davon, wie unwissend er sich gegenüber den Alten vorkam, die er auf den Straßen sah. „Von ihrem Standpunkt aus war die Tatsache, dass jemand einen Monat nach Kriegsende geboren wurde, geradezu ein Witz. So als käme man zehn Minuten nach Konzertende in die Philharmonie und fände nur noch einen vergessenen Schirm in der Garderobe.“
Von Lemberg nach Gliwice: „Der Osten im Westen“
Er war ein Jahr alt, als seine Familie aus der galizischen Geburtsstadt, die nun als Lwiw zur Ukrainischen Sowjetrepublik gehörte, ins schlesische Gleiwitz repatriiert wurde, das nunmehr polnische Gliwice. Die Alten dort, das schreibt er in „Der Osten im Westen“, lebten so, als befänden sie sich noch am früheren Ort. „Die Teller waren aus Lemberg zugezogen, die Bilder aus Lemberg eingewandert.“ Als er sich mit dem Denken und den Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen begann, wurde ihm bewusst, dass die Häftlinge des aufgelösten Konzentrationslagers Auschwitz wenige Monate vor seiner Geburt durch Gleiwitz gezogen waren. In seinem erinnernden Prosastück „In fremder Schönheit“ verweist er auf Jean Améry als einen dieser Überlebenden. Durch das Wissen um den Selbstmord Amérys bekommt diese Information eine zusätzlich düstere Dimension.
Adam Zagajewski, der oft unter denen war, die als Literaturnobelpreisträger gehandelt wurden, wuchs in einen Staat hinein, der sich zur Diktatur formte, aus dem er schließlich floh. Er war gezwungen, zu einem Weltliteraten zu werden. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 druckte die schwarzumrandete Zeitschrift The New Yorker ein Gedicht Zagajewskis: „Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen“. Es war bereits zuvor entstanden, aber es enthält all den Trost, den Literatur zu geben vermag, indem sie den Schmerz aufnimmt und in Schönheit verwandelt. Adam Zagajewski schrieb es mit seiner ganzen Erfahrung. Einige Zeilen seien hier zitiert: „Du hast die Flüchtlinge gesehen, die nirgendwohin gingen./ Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen./ Du solltest die verstümmelte Welt besingen./ Denke an die Augenblicke, als ihr beisammen wart/ in dem weißen Zimmer und die Gardine sich bewegte./ Erinnere dich an das Konzert, als die Musik explodierte.“
Die Welt zu besingen, solange sie es wert ist, bleibt das Amt des Dichters. Lesen wir Adam Zagajewski.