„Die Verwandelten“: Männer machen Geschichte, aber Frauen bekommen die Kinder

Ulrike Draesners neuer Roman zeigt ein Erbgeflecht, das sich aus Breslau über Bayern nach Berlin zieht. Sie erzählt Geschichte anhand von Müttern und Töchtern.

Ulrike Draesner: Dichterin, Erzählerin, Übersetzerin, Literaturprofessorin. Sie lebt in Berlin. 
Ulrike Draesner: Dichterin, Erzählerin, Übersetzerin, Literaturprofessorin. Sie lebt in Berlin. Dominik Butzmann

Das Buch beginnt mit Kinga Schücking, einer angestellten Juristin, auf Erbrecht spezialisiert, und, wie sie sagt: „Spätmutter“. Ihre Tochter trägt einen vierteiligen Vornamen, wird aber nur Flummy genannt, wie der Springball. Sie ist adoptiert. Wir lernen Kinga kennen, als sie auf dem Weg zu einem Vortrag ist. Seltsam zudringlich, mit Wissen aus ihrer Vergangenheit hantierend, macht sich eine fremde Frau mit ihr bekannt, Dorota. Und erst Flummy wird sie ein paar Tage später, als sie in Berlin vor der Tür steht, fragen: „Warum siehst du wie Mama aus?“

„Die Verwandelten“ heißt der neue Roman von Ulrike Draesner, passen würde das Wort auch noch abzüglich zweier Buchstaben als Titel: die Verwandten. Denn die Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen hat ihren Grund. Der lässt Kinga verstehen, warum ihr ihre Mutter Alissa eine Wohnung in Wroclaw vererbte, mit der sie bis dahin nichts anfangen wollte. Oder konnte.

Die „Rückkehr-Deutsche“

Dorota wird wie zuvor Kinga als Ich sprechen, wenn es darum geht, wie sie aus Polen in Deutschland gelandet und geblieben ist. Und wie sie bei ihrer eigenen Mutter jener Alissa begegnete. „Unsere Rückkehr-Deutsche war da, unsere Ich-folge den-Spuren-meiner-Familie-Besitzerin“, heißt es hier in leicht belustigtem Ton, denn das kannten die Wroclawer schon, dass Deutsche „wie das Nessie-Ungeheuer persönlich“ auftauchten und behaupteten, ihre Familie hätte da mal gewohnt.

Damit klingt der Bruch des 20. Jahrhunderts an, der den Roman grundiert. Die Stadt Wroclaw war als Breslau deutsch bis 1945, und während nach Ende des Zweiten Weltkriegs Deutsche von dort flohen, kamen Polen aus dem Osten an. Schon in ihrem Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ widmet sich Ulrike Draesner einer Familie, die die Erfahrung der Flucht über die Generationen trägt. Hier nun scheinen die Lebenslinien am Anfang, in Breslau, in Verwirrung geraten zu sein. Oder in den Worten von Kinga: „Erbgeflechte, in denen wir leben, ohne sie zu durchschauen“. Ihre Mutter kam in Bayern in einem Lebensborn-Heim zur Welt, das war eine Entscheidung der Breslauer Familie, der es unter den Nazis zunehmend schlechter ging. Adoptiert wird sie von einer „Nazisse“.

Eine Lüge über das eigene Ich legen

Die „Verwandelten“ sind allesamt Frauen in diesem Buch, Mütter und Töchter, die unter der Gewalt von Krieg und Ideologie ihre Identität, ihre Namen oder ihre Rolle wechseln wollten oder mussten. „Sie überlog dieses Ich“, heißt es einmal. „Sie ist nur ein Mädchen“, hörte Dorota ihre Mutter zu einem Polizisten sagen. Das sollte ein Schutz sein, entsprach der gesellschaftlichen Situation im sozialistischen Polen. Geschichte wird von Männern gemacht, so war die Perspektive. Aber die Frauen bekommen die Kinder. Nicht nur Dorota und Kinga beschäftigen Herkunft und Verwandtschaft. Auch schon Kingas Mutter und deren Mutter waren auf der Suche. Und in Zukunft wird diese Frage für Flummy entstehen. Im Moment ist Kinga nur bewusst, dass sie ihrem Kind in der Not kein Organ spenden könnte.

Das Gestaltungsprinzip des Romans entspricht dem Thema des „Erbgeflechts“. Die Einzelgeschichten der Frauen entwickeln sich mal parallel, mal unabhängig voneinander. Die Kapitel sind von kurzen lyrischen Lückentexten eingeleitet, deren Rätsel sich nicht alle lösen lassen. Die Verhältnisse zwischen Deutschen und Polen oder zwischen einer Herrschaftsfamilie und dem Dienstmädchen auf der einen Seite und einer Frau, die das nationalsozialistische Mutterbild preist, aber keine Kinder bekommen kann, auf der anderen Seite, ergeben einen verästelten Stammbaum. Bei aller Vielstimmigkeit wiederholt sich Gewalterfahrung – ob körperlich, ob durch Liebesentzug oder durch staatliche Funktionsträger. Doch die Geschichten der Frauen sind wahr, erklärt Ulrike Draesner in einer Nachbemerkung. Im Lauf des Schreibens sei ihr deutlich geworden, dass sie Fiktion neu verstand, sie sei wie „eine Folie, im Nachhinein um verletzte Körper geschlungen“.

Ein Bild als ein Stück Heimat

Bei „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“, vor neun Jahren erschienen, waren Flucht und Fremdheit zwar auch prägend, doch bekamen die Figuren durch ihre Arbeitsgebiete und Forschungen stärker Kontur. In den „Verwandelten“ sind sie mehr in ihren verwandtschaftlichen Rollen zu erleben denn als Charaktere. Manchmal gehen sie einen Umweg zu viel, als sollte jeder nur mögliche Aspekt des Themenbereichs vorkommen.

Es gibt ein vermeintlich echtes Adolph-Menzel-Bild, das in der Familie wie ein Stück Zuhause fungiert. Es wird innerhalb des Romans wie ein Missing Link durch die Seiten gereicht – ein schönes Beispiel dafür, was für eine kluge, planvolle Erzählerin Ulrike Draesner ist. Die Autorin flicht schlesische und polnische Wendungen ein, geht überhaupt sehr souverän mit der Sprache um, reizt viele Möglichkeiten aus, um Stimmungen zu erzeugen. Auch führt sie in der Handlung zu passenden, nie nur aufgesetzten politischen Fragen. „Das nachhängend Gewaltsame der Gewalt war, dass sie nicht erlaubte, Geschichten zu Ende zu erzählen“, heißt es auf einer der letzten Seiten des Buches. Das nachdrücklich Bleibende an diesem Projekt Draesners ist, dass solche Geschichten überhaupt erzählt werden. Und das ist ein Glück für die deutsche Literatur.

Ulrike Draesner. Die Verwandelten. Roman. Penguin, München 2023. 608 Seiten, 26 Euro


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