Eine Liebe in Charlottenburg: Das Literaturhaus und seine Chefinnen

Seit fünf Jahren leiten Janika Gelinek und Sonja Longolius das Literaturhaus Berlin, der Ort ist bunter geworden, das Publikum vielfältiger.

Sonja Longolius und Janika Gelinek im Treppenhaus des Li-Be, des Literaturhauses Berlin.
Sonja Longolius und Janika Gelinek im Treppenhaus des Li-Be, des Literaturhauses Berlin.Sabine Gudath

Märzgrau hängt der Himmel über den Bäumen rund ums Literaturhaus in der Fasanenstraße in Charlottenburg, ein paar Schritte vom Kudamm weg. Im Garten stehen gerade keine Tische des Cafés, das im Sommer so beliebt ist. Und weil es nun auch noch nass von oben kommt, geht die Tür vom Souterrain auf, eilt eine Frau heraus und holt zwei Postkartenständer rein. Das ist Krystyna Swiatek, die zusammen mit Mieke Woelky seit dem Herbst die Buchhandlung Kohlhaas & Co. führt. Hier unten, wo es gerade hell und warm ist, beginnt eine der Geschichten des Literaturhauses. 

Das ist die traurige Geschichte des Elefantenbabys Berolina, die werden Janika Gelinek und Sonja Longolius, die beiden Chefinnen des Hauses, aber erst später erzählen. Zunächst einmal, im Eingangsbereich, fällt der Blick auf die weiße Skulptur eines Rüsseltiers, das unter der holzverkleideten Decke wolkenhaft zu schweben scheint. Das lässt an den sprichwörtlichen Elefanten im Raum denken, Symbol für etwas, das in Debatten nicht angerührt wird. Was für ein Widerspruch zu der Art, wie die Literaturhaus-Leiterinnen die Gründerzeitvilla aufgefrischt haben.

Erstmals eine Doppelspitze

Seit fünf Jahren sind sie im Amt, als erste Doppelspitze in einer solchen Einrichtung, aber wo sonst sollte mit Innovationen begonnen werden? Das Berliner Literaturhaus war bei seiner Eröffnung 1986 das erste seiner Art in der Bundesrepublik, heute haben die meisten Großstädte eines. Als der Gründungsdirektor Herbert Wiesner und auch sein Nachfolger Ernest Wichner in Rente gingen, die beide über Jahrzehnte das Profil des Hauses geprägt hatten, bedeutete 2018 der Start mit der Literaturwissenschaftlerin Janika Gelinek und der Amerikanistin und Kunsthistorikerin Sonja Longolius, Jahrgang 1979 und 1978, einen Generationswechsel. Die Berliner literarische Öffentlichkeit schaute anfangs zurückhaltend zu.

Das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße 23, links der Eingang zum Café, unten in der Mitte geht’s zur Buchhandlung, die leicht verdeckte Tür rechts führt ins Haus.
Das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße 23, links der Eingang zum Café, unten in der Mitte geht’s zur Buchhandlung, die leicht verdeckte Tür rechts führt ins Haus.Sabine Gudath

„Es hat fast bis zu unserem 5. Geburtstag gedauert, bis wir nicht mehr die Neuen waren“, sagt Janika Gelinek nach einer kurzen Führung durch die Räume im Direktorin-Büro. Durchs Fenster sieht man die Terrasse, unwirtlich kahl jetzt, im Sommer einer der schönsten Arbeitsplätze der Stadt. Von hier aus haben die Chefinnen einmal Musik und Dichtung via Lautsprecher in die Straße geschickt, „Luftbrücke“ nannten sie das im ersten Corona-Jahr, als das Programm in seiner geplanten Form ausfallen musste. Da war noch nicht daran zu denken, welche Innovationen die Pandemie ermöglichte – beziehungsweise die staatliche Unterstützung der Kultur. Inzwischen gibt es Literaturkanal.tv, eine Webseite, von Gelinek und Longolius ins Leben gerufen, die Videos von Lesungen und Gesprächen aller Art live streamt und für lange bewahrt. Und als im Jahr zwei von Covid-19 die Ansteckungsgefahr Begegnungen in engen Räumen noch verbot, bekam der große Garten eine Rolle als Freiluftsaal zugewiesen. Alle im Publikum (angemeldet und getestet) wurden mit Funk-Kopfhörern ausgestattet, um Lesungen und Gesprächen noch viele Plastik-Stuhlreihen entfernt folgen zu können – egal, ob gerade Autos in die Straße bogen oder Café-Gäste draußen mit Besteck klapperten.

An der Wand im Büro hängen gerahmte Plakate mit großen Farbflächen, die von einigen der rund 750 Veranstaltungen aus den fünf Jahren erzählen. „Der Grafiker David Nagel und die Gestalterin Raby-Florence Fofana haben anfangs gelacht, als wir sagten, wir wollen das Haus offener und bunter machen. Das neue grafische Erscheinungsbild gehört dazu“, sagt Janika Gelinek. Auf jedem Plakat wie auch auf den Programmflyern und der Internetseite steht „Li-Be“, was mehr sein soll als nur die Abkürzung von Literaturhaus Berlin, man muss es nur einmal laut aussprechen. Sonja Longolius behauptet, das Logo habe sich längst durchgesetzt, Leute würden erzählen, dass sie ins Li-Be gehen. Auf ein Stirnrunzeln des Gastes ergänzt Janika Gelinek: „Wir können Bücher damit füllen, wer das alles seltsam fand.“ Die beiden sind aufeinander eingespielt, das merkt man schnell, sie machen oft Pausen beim Sprechen, um jeweils abzuwarten, ob die andere etwas ergänzen will.

Mittagsgäste und Schulklassen aus ganz Berlin

Sie waren schon lange befreundet, bevor sie beschlossen, sich auf die Leitungsstelle zu bewerben. Das Literaturhaus ist neben dem Literarischen Colloquium Berlin, dem Literaturforum im Brecht-Haus, dem Haus für Poesie und dem Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur LesArt eine von fünf institutionell vom Land Berlin geförderten Einrichtungen der Literaturvermittlung. Jede hat ihr eigenes Profil, eigene Aufgaben. Als Kontrollgremium fungiert jeweils ein Trägerverein, der auch die Leitung wählt. Janika Gelinek sagt: „Wir wollten es unbedingt gemeinsam probieren. Und heute finde ich, das war sicher eine der besten und wegweisendsten Entscheidungen meines Lebens. Aber man muss es schon können.“ Wie man es kann, es dauerhaft miteinander aushält, ergänzt Sonja Longolius: „Das hat viel mit Vertrauen zu tun, bedeutet aber auch, im Arbeiten ständig im Dialog zu sein, alles transparent zu machen.“

„Fünf Jahre Li-Be“ steht am 24. März im Zweimonats-Plan: „10 Uhr bis open end.“ Da hat die Begeisterung die Programmmacherinnen zum Mogeln verführt. Denn für den Vormittag ist nur eine Veranstaltung für Schulklassen anberaumt. Bei dem Wörtchen „nur“ würden die beiden allerdings protestieren. Dass hier in den vergangenen Jahren Kinder und Jugendliche aus allen Bezirken Berlins zum Bilderbuchkino, zu Lesungen, Workshops und philosophischen Gesprächen, sogar zum Tischtennisspielen gekommen sind, macht die Chefinnen sichtlich stolz. Sie loben ihre Kollegin Stefanie Ericke-Keidtel, die das Junge Literaturhaus seit 2018 betreut. Wie sie ja überhaupt ständig Namen nennen und Mitarbeiter aus ihrem Team preisen, man kommt kaum hinterher beim Mitschreiben.

Gefeiert wird der Geburtstag dann richtig ab 19 Uhr mit Lesungen etwa von der Debütantin Dana Vowinckel und dem erfahrenen Kristof Magnusson, mit einem „Speeddating“ der Autorinnen und Autoren, die sonst virtuell auf dem Instagram-Kanal des Literaturhauses in der Rubrik „Sturm Jung Dran“ zu erleben sind, schließlich mit Musik und Karaoke.

Da schwebt ein Elefant im Raum.
Da schwebt ein Elefant im Raum.Sabine Gudath

Geburtstag heiße für sie, nach vorn zu schauen, sagt die eine und die andere ergänzt: „Was kommt jetzt? Was passiert Neues?“ Diese Haltung verwundert nicht nach diesen fünf Jahren. Im Literaturhaus gibt es zwar Buchpremieren wie andernorts, daneben aber mehrere Reihen, die die beiden Chefinnen und ihre Vertrauten erfunden haben. Ein Kritiker-Trio diskutiert über aktuelle Sachbücher, in der Reihe „E trifft U“ werden Klischees über angebliche ernstzunehmende und unterhaltende Literatur befragt, in „Eine Frau wird älter“ ist es erlaubt, über die Falten infolge gut gereifter Gedanken zu sprechen.

Gerade schütteln im Vorraum ein paar Leute ihre regenfeuchten Jacken aus, es sind die ersten Gäste zum „Brown Bag Lunch“. Die Kulturwissenschaftlerin Kateryna Mishchenko aus Kiew, kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine als Fellow ans Wissenschaftskolleg nach Berlin gegangen, wird mit der Slawistin Nina Weller über den Sammelband „Alles ist teurer als ukrainisches Leben“ sprechen. Er enthält augenöffnende Texte dazu, wie der Westen den Krieg darstellt und Ratschläge gibt. Sonja Longolius stellt sich um 12.30 Uhr mit einer kleinen braunen Papiertüte vors Publikum und erklärt das Prinzip der Veranstaltungsreihe: Essen und Trinken sind erlaubt, Lesung und Gespräch dauern nur eine Stunde, damit man nach der Mittagspause wieder an die Arbeit kann.

Aber dann sieht man doch nur mal jemanden scheu ein Stückchen von einer an der Bar am Eingang zum Saal gekauften Brezel abbrechen, ein Lunch ist es nicht. „Das haben wir uns anders gedacht“, sagt Sonja Longolius, als wir wieder zu dritt sind, „wir wollten mit dieser Reihe eigentlich die Nachbarschaft ins Haus holen, die Leute, die hier in der Gegend arbeiten.“ Aber dennoch werde der Termin gern angenommen. Manche Besucher schätzen daran, sich nicht abends aufraffen zu müssen, sondern ein Literaturgespräch mitten am Tag zu erleben.

Eine Reihe zum Grundgesetz

Apropos Nachbarschaft: Das Literaturhaus stand in dem Ruf, fürs Charlottenburger, Wilmersdorfer Publikum da zu sein, für den alten Westen. Janika Gelinek sagt: „Von außen bekommen wir oft dasselbe Kompliment: Ihr habt das Haus geöffnet.“ Sonja Longolius ergänzt: „Wir wollten immer Gastgeberinnen sein – ich glaube, das ist uns gelungen.“ Es kämen jetzt oft Leute, die nichts von der Zeit davor wissen, überhaupt sehr unterschiedliche Gäste, nicht immer dieselbe Blase.

Am Abend des nächsten Tages begegnen wir Krystyna Swiatek von Kohlhaas & Co. wieder. Rechts von der Bar hat sie auf einem Tisch mehrere Exemplare der Anthologie „Das Grundgesetz. Ein literarischer Kommentar“ gestapelt. Die Buchhandlung betreut nach Dienstschluss die Verkaufstische der Veranstaltungen. Im Saal sind deutlich mehr Plätze besetzt als beim Mittagsgespräch. „Grundgesetzlich“ heißt die Reihe, in der diesmal die Schriftstellerin Julia Franck, Beiträgerin des Buches, und die Journalistin und Juristin Helene Bubrowski über Artikel 3 des Grundgesetzes sprechen: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Nach anderthalb Stunden wird die Runde fürs Publikum geöffnet, mit einem feinen Trick: Wer Fragen hat, möge sie bitte auf einen Zettel schreiben, der Moderator sammelt und stellt sie dann vor. Auf diese Weise ist niemand verleitet, lange selbst zu reden, was schon manchen Abend andernorts ins Endlose gleiten ließ.

Hinter den Frauen auf dem Podium wachsen aus der großzügig mit Lehm bedeckten Wand 23 Kakteen. Die Zahl entspricht der Hausnummer in der Fasanenstraße. Das natürliche Material, im vergangenen Sommer hier angebracht, ist ein Hinweis auf unsere Zeit der Klimakrise. In diesem Sinne fand im Literaturhaus auch das Climate-fiction-Festival statt: Ein Nachdenken darüber, wie künstlerische Arbeit die Probleme der Gegenwart aufnehmen kann. Und die Pflanzenart ist auf den einstigen Finanzier der Villa von vor hundert Jahren zurückzuführen, einen passionierten Sukkulenten-Sammler.

Janika Gelinek und Sonja Longolius wollten möglichst viel wissen, bevor sie die Räume mit neuem Leben füllten. Sebastian Januszewski, der das Archiv betreut, hat sie bei der Recherche unterstützt und bietet weiterhin fürs Publikum Führungen in der und um die Villa an. Vor knapp hundert Jahren hatte die in Berlin für ausländische Studierende verantwortliche Alexander von Humboldt-Stiftung hier ihren Sitz, weshalb auch Vladimir Nabokov und Thomas Mann mal zu Gast waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Flüchtlinge im Haus untergebracht.

Und 1965 residierte da, wo heute das Café ist, der Amüsierbetrieb „Dolce Vita“. Dort wurde der kleine Elefant Berolina dazu missbraucht, ein Instrument zu spielen und Tänzerinnen Kleidung vom Leib zu ziehen. Außerhalb der Shows hockte das Tier unten im Haus. Das ging nicht gut aus. Die Boulevardzeitung B.Z. brachte die Schlagzeile „Elefanten-Baby im Nachtlokal gestorben“. Und so lässt sich der Elefant des Künstlers Marc Bausback, den die Li-Be-Leiterinnen im Eingangsbereich schweben lassen, auch als ein Erinnerungszeichen verstehen.