Eröffnung des Archivs von Gerhard Leo: Ein zerrissenes deutsches Jahrhundert

Die Akademie der Künste hat das Archiv des ehemaligen Résistance-Kämpfers und DDR-Journalisten Gerhard Leo für die Forschung erschlossen.

Gerhard Leo signiert im Februar 1989 sein Buch.
Gerhard Leo signiert im Februar 1989 sein Buch.Deutsche Fotothek/Morgenstern

Der Große Saal der Akademie der Künste am Pariser Platz ist bis auf die Empore dicht besetzt. Von kindergartenklein bis Gehstock-benötigend reicht die Altersspanne des Publikums, das zur Eröffnung des Archivs von Gerhard Leo gekommen ist. Er war Jude und Kommunist, schloss sich als junger Mann im besetzten Frankreich der Résistance an, arbeitete in der DDR für die Nachrichtenagentur ADN. Sein Leben von 1923 bis 2009 kann für das zerrissene deutsche 20. Jahrhundert stehen.

Es ist draußen noch hell um 19 Uhr und so warm, als wäre bereits Sommer in Berlin. Dabei haben wir noch Mai. Dass es der 10. ist und damit ein besonderes Datum, darauf weist Gabriele Radecke, die Leiterin des Literaturarchivs der Akademie der Künste, in ihrer Begrüßung hin. 1933 hat an diesem Tag nicht weit von hier (und in etlichen anderen deutschen Städten) die nationalsozialistische Studentenschaft die Verbrennung „undeutschen“ Schriftguts inszeniert. Zu der Zeit war Gerhard Leos Vater, ein Rechtsanwalt, im Konzentrationslager Oranienburg inhaftiert. Im August 1933 kam er wieder frei, floh mit dem Sohn nach Paris, die anderen Familienmitglieder folgten später. Gerhard Leo war damals zehn Jahre alt.

In einem Filmausschnitt zu Beginn des Abends ist Gerhard Leo kurz zu sehen, wie er von der deutsch-französischen Buchhandlung Lifa (Librairie Franco-Allemande) erzählt, die sein Vater begründet hat. Viele emigrierte Autoren hätten dort aus ihren Manuskripten gelesen, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers und Walter Benjamin etwa, ihre Stimmen gehörten zu seinem Aufwachsen.

Gerhard Leo berichtete vom Eichmann-Prozess in Jerusalem

Wie er selbst zum Schriftsteller wurde, das zeichnet Gabriele Radecke in ihrem Vortrag nach. Von seinem autobiografischen Buch „Frühzug nach Toulouse“ habe es mindestens zwei frühe Fassungen gegeben, die verschollen sind, das zeigten Briefwechsel und Notizen im Nachlass. Doch noch in dem letzten vorliegenden Manuskript sei ersichtlich, wie Leo am Spannungsbogen gearbeitet habe. Da war er längst ein erfahrener Journalist, 1988 erschien das Buch in der DDR. Das Archiv enthalte vor allem Material zu seiner Arbeit für ADN, das Neue Deutschland und andere Tagezeitungen von zeitgeschichtlich bedeutsamen Schauplätzen. Gerhard Leo war 1956 beim Aufstand in Ungarn, berichtete vom Eichmann-Prozess in Jerusalem, von den Friedensverhandlungen zwischen den USA und Vietnam sowie bei den Unruhen in Paris vom Frühjahr 1968, war dann von 1973 bis 1984 als Korrespondent in Paris.

Sein Enkel, der Schriftsteller Maxim Leo, Lesern der Berliner Zeitung noch als Kolumnist und Reporter bekannt, sagt im Verlauf des Abends: „In meiner Kindheit war mein Großvater Westbesuch. Ich verbinde seine Erzählungen vom Partisanenkampf in Frankreich mit dem Geschmack von Milka-Schokolade.“ Er, Jahrgang 1970, ist hier auch in der Funktion als Zeitzeuge. Sein Buch „Haltet Euer Herz bereit. Eine ostdeutsche Familiengeschichte“, 2010 erschienen, erzählt persönlich, aber nicht privat, von den Verwerfungen der Jahrzehnte. Er liest einen Abschnitt daraus, das Publikum lacht dankbar, denn Maxim Leo versteht es, Pointen zu setzen. Der sozialistische Staat DDR war für Gerhard Leo und seine Freunde aus dem Widerstand gegen die Nazis eigentlich die Erfüllung eines Traumes. Dass er in der Realität selbst repressiv war, wollten viele nicht wahrhaben.

Wie die Politik auch in Gerhard Leos Familie wirkte

„Frühzug nach Toulouse“ erschien zwar nach der deutschen Vereinigung noch einmal, ist aber heute nicht mehr lieferbar. Umso wertvoller ist es, dass Ulrich Matthes einen langen Abschnitt daraus vorliest, fast ein bisschen zu lang – denn das fehlt an Gesprächszeit auf dem Podium. Die Akademie der Künste hat ein paar antiquarische Exemplare des Buches aufgetrieben. Es liegt vor dem Saal zum Verkauf aus, zum Beispiel neben „Das Kind auf der Liste“, der Rekonstruktion der Geschichte des Jungen, der an Stelle des von Häftlingen geretteten jüdischen Stefan Jerzy Zweig im KZ Buchenwald sterben musste. Das ist doch etwas ganz anderes, könnte man meinen. Aber es gehört doch alles zusammen. Erstens, weil dieses Buch von Annette Leo geschrieben wurde, der Tochter von Gerhard und Mutter von Maxim. Sie ist Historikerin und hat zeitweise wie ihr Vater als Journalistin gearbeitet. Die freundliche Sicht des Vaters auf die DDR vermochte sie irgendwann nicht mehr zu teilen. Und deshalb gehört auch sie in die Diskussionsrunde über Gerhard Leo.

Sie hat für den Abend einen Text geschrieben, den sie vorträgt. Darin spiegelt sich die vielfache Verstrickung des Vaters am Beispiel des Prozesses gegen den ehemaligen deutschen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem. Leo war dort als „Beobachter, Zeitzeuge und Betroffener“, zudem mit einem klaren Auftrag seiner Auftraggeber. In seinen Notizen fand die Tochter, wie er weniger aufmerksam die Aufklärung der Verbrechen Eichmanns verfolgte als alle Indizien dafür, wie in der Bundesrepublik Nazis fortwirkten. Wie schwer mag ihm das gefallen sein? In den Briefen nach Hause sparte er das aus. Auf die Frage des Moderators, wie Annette Leo erlebte, wie in der DDR auf das Buch ihres Vaters reagiert wurde, sagt sie, daran könne sie sich nicht gut erinnern. Zu verschieden seien damals ihre Ansichten gewesen. So wirkte die Politik in die Familien.