Friedenspreisträger Serhij Zhadan aus der Ukraine: Ein Dichter im Krieg
Warum es richtig ist, dass Serhij Zhadan diese Auszeichnung bekommt: ein großartiger Schriftsteller, dessen Poesie politisch ist und voller Hoffnung.

Serhij Zhadan erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022, das ist eine sehr gute, erfreuliche Nachricht in vielerlei Hinsicht. Aber es ist auch eine Nachricht, die wehmütig stimmt. Denn es besteht durchaus Grund zur Sorge um den 47 Jahre alten Schriftsteller und Musiker, der in Charkiw im Osten der Ukraine lebt. Dort hat er im Moment kaum Zeit zum Schreiben von Gedichten, Songs oder Romanen.
Dort kümmert er sich um die Alten, dort half er, die Kinder in Sicherheit zu bringen, organisiert er Medikamente und Lebensmittel. Er singt vor Soldaten in Unterständen, beschafft Stromaggregate oder Lastkraftwagen für eine Einheit, deren Kommandanten die Leser von Zhadans Facebook- oder Twitter-Nachrichten inzwischen kennen. Der Friedenspreis geht an einen Dichter im Krieg, dessen Land sich seit dem 24. Februar 2022 gegen einen Aggressor wehrt.
Seit 1950 verleiht der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Berufsorganisation der Verlage und Buchhandlungen, den Friedenspreis an eine Persönlichkeit, „die einen wichtigen Beitrag zum Frieden, der Menschlichkeit und der Verständigung der Völker geleistet hat“. Er ist mit 25.000 Euro dotiert, die Verleihung im Herbst, am Sonntag der Frankfurter Buchmesse, live im Fernsehen, erhält immer eine große Aufmerksamkeit über Deutschland hinaus. Vaclav Havel hat die Auszeichnung zum Beispiel erhalten, Astrid Lindgren, Susan Sontag und Amos Oz, Swetlana Alexijewitsch und zuletzt Tsitsi Dangarembga, der man gerade mit kruden Anschuldigungen in Simbabwe den Prozess zu machen versucht.
So bereit für Hoffnung, dass es schmerzt
Serhij Zhadan steht mit seinem Werk und seinem Einsatz sehr gut in dieser Runde, geehrt wird er „für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft“. Geboren wurde er noch in der Sowjetunion, im Gebiet Luhansk, seine Pubertät fiel in die Zeit der Perestroika, und als er mit 17 die ersten Gedichte publizierte, da fiel das Land, in dem er aufgewachsen war, auseinander.
Sein Schreiben, ob in Lyrik oder Prosa, in Essays oder Rocksongs, ist von Anfang an auch politisch. „Im Frühherbst Anfang der Neunziger konnte man sterben/ nur weil man Wörter benutzt hatte wie: Frühherbst, frühe Neunziger“, heißt es in seinem Gedicht „Revolver und Rosen“ von 2007, die Umbruchzeit aufnehmend. Politisch ist Zhadan in einem den Menschen zugewandten Sinne, mit Blick auf die Unterdrückten, Vergessenen, stets aufmerksam für Veränderungen. Er ist bis heute so sehr bereit für Gedanken an eine bessere Zukunft, dass man es kaum glauben mag, dass es schmerzt. In seinem jüngsten Gedichtband „Antenne“, 2020 auf Deutsch erschienen, schreibt er: „Kühner Dichter der Schleusen an den europäischen Flüssen, Dichter eines Landes, das wehrlos stirbt, wenn es den Winter spürt, sprich über die Hoffnung; über Angst und Ausweglosigkeit sprechen jene, die nicht lesen.“
Seine deutsche Lektorin Katharina Raabe erzählt am Telefon, dass der Kontakt zu ihm jetzt immer nur kurz sei, aber gerade habe sie ihm das Buch zur Begutachtung geschickt, das Anfang Oktober bei Suhrkamp erscheinen soll. Es ist ein Buch mit Zhadans Texten und Bildern aus dem Krieg, vom 24. Februar bis 24. Juni. „Himmel über Charkiw“ wird es heißen.
Der Roman „Internat“ wurde in Deutschland ausgezeichnet
„Seine Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern“, heißt es weiter in der ausführlichen Begründung für den Friedenspreis. „Dabei findet der Schriftsteller eine eigene Sprache, die uns eindringlich und differenziert vor Augen führt, was viele lange nicht sehen wollten.“
Man musste Serhij Zhadan nicht jetzt erst entdecken, weil die demokratische Welt seit dem Überfall von Putins Armee auf die Ukraine schaut. Er gehört schon lange zu den prägenden Stimmen der osteuropäischen Literaturszene, ist neben Oksana Sabuschko, Juri Andruchowytsch und Andrej Kurkow einer der bekanntesten ukrainischen Autoren. Der Friedenspreis wird ihm aber noch mehr Aufmerksamkeit bringen, weshalb diese Entscheidung so gut ist.
2006 erschien mit „Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts“ der erste Gedichtband von ihm auf Deutsch, es folgte im Jahr darauf der Roman „Depeche Mode“. Im Roman „Mesopotamien“ machte der Autor Charkiw zur Hauptstadt eines Zweistromlands zwischen dem ukrainischen Dnjepr im Westen und dem russischen Don im Osten. 2018 erschien sein Roman „Internat“, darin versucht ein Mann seinen Neffen im Donbass aus der Frontlinie zu holen. Es ist der Krieg von 2014, den der Mann, ein Lehrer, selbst nicht wahrhaben wollte. Inmitten des Feuers erkennt er, wie er bereit für Lügen war.
Das Buch wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt, genauer: die Übersetzung durch Sabine Stöhr und Juri Durkot. „Dass Zhadans großartiger Roman auch in der Übersetzung eine enorme Wucht entwickelt, liegt nicht nur am Sujet und der eigentümlichen, hyperwachen Stimmung, sondern auch an den kaskadenartigen Satzketten, die im Deutschen einen drängenden Erzählrhythmus erzeugen, und an der Sprache“, hieß es damals zu Begründung. „Lebendiger als in diesem Roman kann man vom Krieg nicht erzählen, lebendiger kann eine Übersetzung nicht sein.“
Zhadan hat an der Pädagogischen Universität in Charkiw Germanistik und Ukrainistik studiert und über den ukrainischen Futurismus promoviert. Er spricht Deutsch, übersetzt aus dem Belarussischen, Polnischen, Russischen und Deutschen. In Berlin ist er in den vergangenen Jahren wiederholt aufgetreten, mit seinen Büchern als Dichter, mit der Ska-Punk-Band Sobaky v Kosmosi (Hunde im Weltall) als Sänger und Texter. „Literatur ist mein Beruf, Musik ist mein Hobby. Ich schreibe an einem großen Text, ob für Musik oder für Bücher“, sagte er 2010 nach einem Konzert. In seinem Roman „Die Erfindung des Jazz im Donbass“ (auf Deutsch 2012) verliert sich die Spur einer amerikanischen Anarchistin und Jazzkomponistin, während es darum geht, die Tankstelle eines West-Flüchtlings zu retten. Es sammelt sich eine Gesellschaft skurriler Figuren an, vom Sozialismus beschädigt, an die Freiheit nicht glaubend, liebenswert in eine Zukunft stolpernd.
Ein Lied für die Kinder im Krieg in der Ukraine
Der Krieg, der in der Ostukraine auf die Maidan-Proteste vom Februar 2014 folgte, und die russische Besetzung der Krim haben Serhij Zhadan stärker politisiert. Er ging mit den Sobaky zu den Leuten in den besetzten Gebieten. Was er erlebte, schlug sich auch in dem Erzählungsband „Die Selbstmordrate bei Clowns“ (Edition FotoTapeta) nieder. Er gründete eine Hilfsorganisation, die Serhiy Zhadan Charitable Foundation, mit der er Bildungs- und Kulturinitiativen in der Ostukraine fördert. Dieses Netzwerk nutzt er nun, um Unterstützer zu koordinieren und Geld zu sammeln.
Vor drei Monaten druckte die FAZ die deutsche Übersetzung eines Songs, den Zhadan gerade erst geschrieben hatte, „Kinder“ heißt er. Der Refrain lautet: „Es bleibt von der Nacht der dunkle Himmel,/ Der Krieg geht weiter, die Kinder wachsen!/ Und du gibst ihnen Liebe, denn außer dir/ Wird sie keiner hier lieben.“ Der Schlussvers zeigt Serhij Zhadan mit all seiner Hoffnung: „Und alles, was dich bis heute trägt,/ Wird dich auch morgen noch tragen!“