Jürgen Becker zum 90. Zeitmitschriften in Lyrik und manchmal auch Prosa

Er ist ein Writer‘s Writer, viele jüngere Dichter beziehen sich auf ihn. Lutz Seiler hielt ihm die Laudatio zum Büchnerpreis.

Jürgen Becker bei einer Lesung mit Empfang zu Ehren seines 90. Geburtstags im Kölner Rathaus.
Jürgen Becker bei einer Lesung mit Empfang zu Ehren seines 90. Geburtstags im Kölner Rathaus.IMAGO/Horst Galuschka

Scheinbar beiläufig beginnen Gedichte Jürgen Beckers: „Zurück auf dem Land“ zum Beispiel oder „- fortsetzend des selbstgesprächs“. So holt er seine Leser ran an sich und hinein in seine häufig buchlangen Gedichte. Sie sind eine Einladung, das Bewusstsein eines Zeitgenossen zu besichtigen, das die Gegenwart in Augenblicken wahrnimmt. Jede Gegenwart hat aber auch eine Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die bei Becker, der am 10. Juli 90 Jahre alt wird, auch biographisch weit zurückreicht.

Er gehört nun zu den Letzten, die noch eine eigene Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus, an den Zweiten Weltkrieg haben. Vergangenheit, oder etwas pathetischer Geschichte, webt sich wie von selbst immer in die Texte von Jürgen Becker ein. Seine Lieblingsgattungsbezeichnung ist das Journal, seine Prosa; seine Langedichte sind Zeitmitschriften. Im Gespräch sagt er, dass das assoziative Denken sein Schreiben bestimme. Die Lyrik Beckers ist niemals zeitlos, aktuelle Ereignisse hinterlassen ihre Spuren im Text. Die Gedichte lassen sich immer datieren, auch in seinem neuen Lyrikband „Die Rückkehr der Gewohnheiten“: „Der Deutschlandfunk bringt/keine Verkehrsmeldungen mehr.// Stille liegt noch/zwischen Westwall und Maginot-Linie im Februar 40:/ Zeilen für einen Lebenslauf, der hineinreicht ins Blickfeld/zwischen Baukränen und dem Himmel Berlins.“ Dann wird mit einem Satz die Pandemiezeit aufgerufen: „Der Vormittag. Ein Chinese taucht auf, und Passanten wechseln die Straßenseite.“

Idyllengefahr besteht bei Jürgen Becker nie

So wie die Zeit ist der Raum konstitutiv bei Becker. Oft stehen Ortsnamen in den Titeln: „Foxtrott im Erfurter Stadion“, „Graugänse über Toronto“, „Odenthals Küste“; manchmal sind es Räume, „Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“, oder Konstellationen: „Dorfrand mit Tankstelle“ – dies eine ganz typische Becker‘sche Fügung, Idyllengefahr besteht bei ihm nie. Immer wieder erkundet er seine Sehnsuchtslandschaften wie Thüringen, die Ostseeküste, das rechtsrheinische Bergische Land, Berlin und seine Umgebung mit dem Auto.

Das Verhältnis von Raum und Zeit beschrieb Lutz Seiler in seiner Laudatio zum Büchnerpreis an Becker 2014 so: „… und an diesem Ort aus dem Gedächtnis der Landschaft zu lesen, die Verräumlichung der Geschichte vor Ort, wo das Gedächtnis der Landschaft und die Erinnerungen des Betrachters sich befragen und zur Sprache kommen“. Es war kein Zufall, dass Becker den wichtigsten deutschen Literaturpreis bekam, es war auch kein Zufall, dass er ihn so spät bekommen hat, er gehört nicht zu den Lauten im Lande, aber noch weniger war es ein Zufall, dass – was selten vorkommt – ein Autor aus dem Osten die Laudatio auf den westdeutschen Schriftsteller hielt.

Jürgen Becker hat als experimenteller Prosa-Autor begonnen; seine Bücher , „Felder“, „Ränder“, „Umgebungen“ sind mittlerweile Klassiker der Literatur der Sechzigerjahre, sie sind Versuche, sich der deutschen Sprache wieder zu versichern, die von den Nationalsozialisten missbraucht wurde. Becker interessierte der klassische Roman nicht. Es sollte bis 1999 dauern, ehe er einen einzigen in seinem Schreibleben vorlegte – mit 67 Jahren. „Aus der Geschichte der Trennungen“ ist ein autobiografisch angelegter Roman, der zum einen in der Erfurter Kindheit und zum anderen vor allem in den östlichen Bundesländern der eben wiedervereinigten Landschaft angesiedelt ist, im Niederen Flämig etwa oder an der Ostsee. Es war kein Roman, der die Wiedervereinigung als etwas Wunderhaftes ansah, sondern vielmehr als etwas Natürliches.

Becker, der nie in die DDR reiste, nach eigenen Worten mit dem Rücken zu ihr lebte, fuhr am offiziellen Einheitstag am 3. Oktober 1990 im Zug von Köln nach Erfurt. In einem Gespräch sagte er: „Da war der Autor plötzlich wieder der kleine Junge, der den Bachstelzenweg wiedersah, dann die Fahrt in die Stadt rein über die Schillerstraße, die Kirche, in der ich konfirmiert wurde – das war alles für mich so, als käme ich aus den Ferien zurück.“ Diese Reise löste etwas in ihm aus.

Nach dem Mauerfall schrieb er über eigene Traumata

Die politische Überwindung der Trennung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten erlaubte ihm, über private Traumata zu schreiben, die Scheidung der Eltern und den Selbstmord der Mutter im Schwielochsee bei Cottbus. Erkundungen und Selbsterkundungen sind es, die der Autor in diesem Roman betreibt. Und immer wieder steht die Frage im Raum: Was wäre aus mir geworden, wenn wir nicht 1947 wieder ins Rheinland zurückgegangen wären. Gespräche mit den Ostdeutschen, oft mit Gleichaltrigen auf Augenhöhe, prägen den Roman – und die stille Genugtuung über eine Grenze weniger auf der Welt.

Jürgen Becker hat sein ganzes Leben für und mit der Literatur gearbeitet. Er war Lektor, er leitete einen Theaterverlag und schließlich war er viele Jahre der Hörspielredakteur beim Deutschlandfunk in Köln. Er ist ein Writer‘s Writer, für viele junge Dichter ist er ein Vorbild. Berlin ist er stets verbunden geblieben. Wenn er hier war, wie zuletzt noch im Juni, wohnt er entweder in der Akademie der Künste am Hanseatenweg oder im Literarischen Colloquium am Wannsee.

Der Suhrkamp Verlag hat gerade eine opulente Ausgabe seiner „Gesammelten Gedichte“ herausgebracht, in der auch der zeitgleich erschienene schon erwähnte neue Band „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ enthalten ist, mit der Widmung „für die Erinnerung an Rango Bohne“, seine im vergangenen Jahr verstorbene Frau. Hier ist er wieder zu hören, dieser einzigartige Beckersound. Die ganze Welt hat Platz in diesen Gedichten. Sie ist im hohen Alter nur ein wenig kleiner geworden. Das jüngste Gedicht endet: „... vergessen, was man vergessen hat; geblieben,/ was noch zu tun ist. Zeitlebens ist geblieben ein Rest, und du weißt nicht, wenn sie wegkehren das Zeug oder/ wiederverwenden, was die Nachkommen sich dabei denken./ Nachtfröste mitten im März, in jedem Fall das Wasser/ abstellen, und tagsüber ist es kalt, daß man/ einen Pullover braucht für draußen“.

Jürgen Becker: Gesammelte Gedichte. 1971–2022. Mit Bildern und Collagen von Rango Bohne und Fotos von Boris Becker. Suhrkamp, Berlin 2022. 1121 Seiten, 78 Euro.