„Das Liebespaar des Jahrhunderts“: Ich liebe dich. Ich verlasse dich

Julia Schoch erzählt im zweiten Teil ihrer „Biografie einer Frau“ von einem Paar. 42 Reisen, vier Küchen, dreißig Jahre Leben. 

Julia Schoch, in Bad Saarow geboren, lebt in Potsdam. Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen.
Julia Schoch, in Bad Saarow geboren, lebt in Potsdam. Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen.Sabine Gudath

Liebesgeschichten gehören zum Kerngeschäft der Literatur, seit Jahrtausenden kreisen Lyrik, Prosa und Drama um die stärkste zwischenmenschliche Anziehungskraft. Derzeit liegt die Spannbreite von Und-am-Ende-küsst-der-Mann-die-Frau in Bonbonfarben bis zu polyamourösen, genderfluiden Experimenten. Wenn nun Julia Schoch ihren neuen Roman „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ nennt, platziert sie sich selbstbewusst (oder ironisch?) irgendwo dazwischen. Sie lässt ihn mit dem gefürchtetsten aller Liebessätze beginnen: „Im Grunde ist es ganz einfach: Ich verlasse dich.“ Das Ich, das hier spricht oder, genauer, denkt (der Abschied wurde dem Du noch nicht mitgeteilt), lässt auf den folgenden 190 Seiten Revue passieren, was es beenden will.

Anfangs war es zauberhaft: „Ich liebte dich sofort.“ Er ein eigenwilliger Student in eleganten Anzügen, die er mit senffarbenen Plateauschuhen kombiniert; sie eine junge Frau, die mühelos ihre Seminare und Klausuren absolviert und ihn ruckzuck zum Zentrum ihres Universums erklärt. Sie ist überglücklich, hingerissen, himmelt ihn an, schneidet sich die Haare ab, um auszusehen wie er: „Du und ich das Liebespaar des Jahrhunderts!“

Die Freiheit hat gerade begonnen

Die beiden liegen in Betten und an kiefernbestandenen Seen, reisen, trinken, lesen, spielen Halma und Roulette, gehen ins Kino, wohnen eine Weile in Frankreich: „Wir waren jung. Es hatte gerade eine Revolution gegeben. Die Berliner Mauer, ja sämtliche Grenzen waren ein paar Jahre zuvor gefallen. Es herrschte Freiheit, wie es damals hieß, die Welt stand uns offen.“

Die ersten Jahre sind voller leuchtender Momente, sie werden genau und lebendig beschrieben: Treffen in Paris, Abende im Casino, Sonne auf dem Plattenbaubalkon, durchzechte Nächte, Kleider, die sich „auf raffinierte Weise ausziehen lassen“. Es folgen viele weitere Jahre, einunddreißig, um genau zu sein, bis die Erzählerin – ziemlich ernüchtert – bilanziert. „Während dieser Zeit haben wir 42 Reisen unternommen, 27-mal sind wir ins Ausland gefahren. Wir haben vier Küchen angeschafft. Fünfmal wurde uns ein neuer Ausweis ausgestellt.“

Die beiden wurden Eltern und älter, Alltag zog ein. Manches wird nur angedeutet, Affären zum Beispiel, Überdruss, Konflikte. Manches wird genau betrachtet, etwa diese ganz spezielle Choreografie, mit der sich gereizte Paare in engen Wohnungen und Badezimmern umeinander herumbewegen. Der Roman fängt die übervollen Tage berufstätiger Mütter, die auf Fahrrädern mal eben ganze Ritterburgen transportieren, ebenso ein wie die graue Stimmung, wenn zwei Menschen auf ihren Laptops unterschiedliche Filme schauen.

„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ ist der zweite Teil einer Trilogie, die Julia Schoch 2022 mit „Das Vorkommnis“ begann. Im ersten Roman wird die Ich-Erzählerin unerwartet mit einer Halbschwester konfrontiert, was ihre Familien- und Selbstwahrnehmung ins Wanken bringt. Im zweiten nun geht es um die frei gewählte Beziehung, eben die Liebe. Die Trilogie lässt sich, das sagte Schoch in einem Interview, durchaus als Autofiktion lesen. So werden ja derzeit Texte genannt, die sich zwischen eigenem Erleben und Fiktion bewegen und zu ersterem neigen. Wie auch immer beides hier gewichtet sein mag, die „Biografie einer Frau“ so der übergreifende Titel der Trilogie, fächert ein Leben entlang unterschiedlicher Themen auf. Die Romane ergänzen, ja überschneiden sich, funktionieren aber auch jeder für sich.

Wie in ihren anderen Büchern erzählt Schoch auch diesmal von Menschen mit DDR-Erfahrungen. „Wir waren beide in einer Diktatur aufgewachsen. Wir kannten dieselben Filme, dieselbe Musik, wir hatten die gleiche Sehnsucht gehabt.“ Ihr Vater war Soldat, ein „Staatsdiener“, seiner ein regierungskritischer Künstler. Lange denkt sie, die beiden Männer seien sich ähnlich, dabei sind gerade ihre Unterschiede wichtig, und zwar sogar für die Liebe. „In Wahrheit war es so: Indem ich mich dir und deiner Familie anschloss, konnte ich meine eigene beschämen. Ja, in gewisser Weise tilgte ich meine Herkunft durch die Liebe zu dir.“ Sie hätte so eine Deutung damals aber nie eingeräumt, fügt sie hinzu, ja akzeptiere sie eigentlich immer noch nicht. Ob sie und ihr Mann je darüber sprachen, wird nicht erwähnt.

Julia Schoch, Das Liebespaar des Jahrhunderts
Julia Schoch, Das Liebespaar des Jahrhundertsdtv

War das naiv? Überheblich?

Erzählt wird hingegen, wie sie sich, zumindest anfangs, über Liebesleid in Film, Musik und Literaturgeschichte lustig machen. Den zeitgeistigen Trübsinn der 90er-Jahre finden beide nervig, all die schwarzen Pullis, Songs, Bücher und Filme über scheiternde Beziehungen: „Wir würden immer zusammenbleiben. Ich sah es ganz klar: Unsere Liebe fing dort an, wo die Filme aufhörten.“ War das naiv? Überheblich? Selbstbetrug? Das Buch, das wir in den Händen halten, versucht diese Frage zu beantworten. Nach gut 30 Jahren, mit Berufen und Kindern, Groll und Entfremdung. Das Verblassen der Begeisterung füreinander wird dabei nicht in übersichtliche Erklärungen gepresst. Die Erzählerin denkt nicht über Geschlechterrollen oder Untreue, Wechseljahre oder Midlife Crisis nach, sondern über Erwartungen, Erzählweisen, den Prozess des Erinnerns und dessen Fallstricke.

Das klingt kompliziert, ist aber ganz einfach: Schoch erzählt eine Liebesgeschichte, die überschwänglich in den Nachwendejahren beginnt und bis in die Gegenwart reicht. Sie beschreibt außerdem, auf welche Weise die Ich-Erzählerin sich erinnert: Wie sie verklärt und zweifelt, wie sie sich etwas vormacht, vergaß, schlicht nie wusste, wiedererinnert und fragt. Warum erzählte sie nie von diesem Gedicht für einen anderen Mann? Was bedeuteten ihr die Berufe der Väter? Wie verhielt sie sich ganz genau beim ersten Sex? Warum steht sie noch an diesem Herd? Das besonders Schöne daran ist, dass jenes „ich liebe dich“ des Anfangs  bei allem „ich verlasse dich“ immer ernstgenommen wird.

Gegen Ende des Romans gibt es ein bisschen Hoffnung für „Das Liebespaar des Jahrhunderts“. Jedenfalls beginnen die beiden wieder miteinander zu reden. Schoch behandelt ihr Thema mit einer vorsichtigen Zuversicht und bewahrt sich eine scharfsinnige Skepsis: Hier geht es weder um eine heile Welt noch um Desillusionierung, sondern um die präzise Reflexion dessen, was es heißt, zu lieben und davon zu erzählen. Und das ist bei den ausgetretenen Pfaden, denen dieses so alte, so populäre Sujet „Liebe“ viel zu oft folgt, wirklich etwas Besonderes.

Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts. Roman, dtv, München 2023, 191 Seiten, 22 Euro

Buchpremiere 21. Februar, 20 Uhr, Pfefferberg-Theater