Krimiautor Matthias Wittekindt: Im Gerichtssaal interessieren mich die Zeugen

Und der Schriftsteller darf nur heimlich mitschreiben. Ein Gespräch über Gewalt und die sanften Möglichkeiten des Kriminalromans.

Eine Zeugin im Gerichtssaal. Der Krimiautor Matthias Wittekindt hört im Gericht gern zu.
Eine Zeugin im Gerichtssaal. Der Krimiautor Matthias Wittekindt hört im Gericht gern zu.imago/rubberball

Matthias Wittekindts Kriminalromane erzählen mehr als nur einen Fall, sie handeln von den Bedingungen der Gesellschaft und auch von den Verhältnissen, in denen seine Ermittler agieren. In diesem Jahr erschienen ein zweiter Band in einer Reihe um einen Kriminaldirektor im Ruhestand und der Auftakt einer Serie von historischen Krimis. Im Gespräch über seine Arbeit geht es um seine Art des Erzählens, die Gefahr, im Ideologischen zu landen, und seine Gerichtsbesuche.

Herr Wittekindt, ich möchte über Ihre Kriminalromane, aber doch auch über das Genre generell sprechen, das seit Jahren so sehr boomt, im Fernsehen, aber auch gedruckt.

Ja, aber es boomt nicht für alle gleichermaßen.

Da würde ich gern gleich einhaken: Inwiefern boomt es nicht für alle gleichermaßen?

Weil ich glaube, dass es beim Kriminalroman immer noch eine starke Erwartungshaltung des Publikums gibt, in welche Richtung sich so ein Buch entwickeln soll. Die Grenzgänger – so hätte man es früher genannt –, die zwischen Kriminalroman und politischem Buch oder zwischen Kriminalroman und in meinem Fall eher Entwicklungsroman changieren, die unterlaufen, was zu erwarten ist, die profitieren nicht so sehr davon, vermute ich.

Sie selbst sind relativ spät zum Krimischreiben gekommen. Was war der Anstoß für Sie?

Ich habe lange Theater gemacht, dann Hörspiel, und meine Frau sagt immer: In deinen Theaterstücken und Hörspielen, da sind viel mehr Leute ums Leben gekommen als in deinen Krimis. Ich bin dann dazu gekommen an einem Nachmittag, als ich auf meinem Balkon saß, damals noch im Hörspiel-Geschäft tätig, ich hatte etwas abgeschlossen, abgeschickt und dachte: Was kann man denn jetzt noch machen? Und es kam mir wirklich wie aus dem Nichts der Gedanke, wie es mal mit einem Krimi-Hörspiel wäre. Ich wollte es mal probieren, habe dann eines geschrieben und werde nie vergessen, dass ich bei der Agentur anrief und sie mich fragten: Was ist es denn diesmal, Matthias? Ich sagte: Ein Krimi. Und sie sagten: Dann schick sofort. Vier Stunden später rief eine Frau vom NDR an und sagte: Wir nehmen das. Da habe ich gedacht: Oh, das funktioniert besser als die anderen Sachen.

Und Sie blieben dabei?

Es hat eine Weile gedauert, bis ich das Genre überblickt habe. Aber ich habe nach und nach erkannt, dass der Krimi für meine Art zu denken und zu schreiben eine wunderbare Grundlage bildet. Keiner verbietet es einem, ihn auch als Entwicklungsroman oder als Familiengeschichte aufzufassen. Nur dass eben die Gewalt, nicht nur der Mord, die Gewalt grundsätzlich schon impliziert ist und man diese Fallhöhe immer hat, vom Alltäglichen zu dem, womit es eine Polizeidienststelle dann zu tun bekommt. Ich merkte, es tut meinem Schreiben keinen Abbruch, ich fühle mich darin inzwischen sehr wohl.

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Heike Huslage-Koch
Zur Person
Matthias Wittekindt, geboren 1958 in Bonn, studierte in Berlin und London Architektur und Religionsphilosophie. Seine literarische Arbeit begann er mit Bühnenwerken und Hörspielen. Seit 2011 schreibt er vor allem Kriminalromane. „Vor Gericht“, sein erster, auf einem wahren Fall beruhender Roman um den Kriminaldirektor a. D. Manz, erschien 2021. Diesen Herbst erscheint mit „Die rote Jawa“ ein dritter Manz-Krimi. „Fabrik der Schatten“, einen im Kaiserreich spielenden Kriminalroman, schrieb er zusammen mit dem 2020 verstorbenen Rainer Wittkamp. Das Buch erscheint am 11. Juli bei Heyne (368 S., 11 Euro). Wittekindt wird auch diese Reihe fortführen.

Ist das Genre eine Hilfe, indem es gewisse Grundpfeiler anbietet?

Ja. Aber das Genre ist auch so vielfältig. Es gibt Krimis, die fast dokumentarisch sind. Ich hänge ja zu einem Teil dem Naturalismus an, um Zustände, Orte, Lichtstimmungen zu beschreiben. Was das Polizeiprozedere betrifft, da musste ich mich lange reinarbeiten. Bis ich endlich mit Kriminalkommissaren geredet habe, die Bezeichnungen gelernt – man möchte irgendwann, dass das auch stimmt. Ja, das Genre hat geholfen insofern, als es eine eingeführte Form ist, in der es Gewalt gibt von Menschen gegen Menschen. Bei mir reicht auch manchmal ein Unfall, ein Autounfall.

Für Ihre neue Serie um Kriminaldirektor a. D. Manz waren Sie bei Gericht, haben zugehört, sich auf tatsächliche Vorfälle gestützt.

Ja, ich habe viele Verhandlungstage da zugebracht. Das war lustig, denn ich war kein akkreditierter Journalist, durfte nicht mitschreiben. Ich habe dann unter der Bank … die Richterin guckte mich an, schüttelte manchmal sachte den Kopf. Aber das wirklich Bahnbrechende für mich waren gar nicht die Fälle, sondern die Zeugen. Da hat man den einen, der sich von vornherein angegriffen fühlt. Dann hat man den Superklugen, der alles gut vorbereitet hat, der quasi druckreif spricht, und völlig aus der Fassung gerät, wenn eine Zwischenfrage gestellt wird. Dann hat man diejenigen, die einen Übersetzer brauchen, die Betroffenen, die weinen. Ich glaube, mich interessiert der Rhythmus, in dem sie reden, nicht nur, was sie sagen, sondern wie sie es sagen. Und wenn ich das habe, habe ich die Spur, komme über die Figuren, hinter den Fall, zu dem, was sich alles abgespielt hat. Das kommt meiner Auffassung vom Kriminalroman entgegen, dass es um ein Geflecht von Beziehungen, Gruppen geht. Und das findet vor Gericht statt.

Der Kriminalroman als Gesellschaftsroman?

Absolut. Im letzten Gerichtsverfahren, das ich verfolgt habe, war ein Pfarrer angeklagt. Unter den Zeugen war alles vertreten. Von einem, von dem man dachte: Okay, der hat den Poststrukturalismus gründlich durchgearbeitet, bis hin zu einem, der kauend Halbsätze von sich gab. Die ganze Bandbreite an Sprachvermögen und Reflexionsvermögen. Was Besseres kann einem Schriftsteller nicht passieren, als dass er diese Figuren sprechen hört. Man muss nur aufpassen, dass man die Leute nicht bewertet. Sie sind, wie sie sind.

Und warum in der Manz-Serie die Entscheidung für einen Kriminaldirektor a. D.?

Es gibt dafür zwei Gründe. Der erste war, dass ich das als Erinnerung von jemandem schreiben wollte, weil ich dadurch, dass es ein Rentner ist, das Familiengeschehen anders einbauen konnte. Den Blick vom alten Manz auf den jungen. Zum zweiten spielte eine Rolle, je mehr ich mich mit Kriminalkommissaren unterhalten habe, desto mehr merkte ich, dass heute eigentlich 15 Leute an so einem Fall arbeiten, dessen Ergebnis zu 80 Prozent eines der Spurensicherung ist. Kriminalkommissare, die als Solitäre ermitteln, die gibt es gar nicht mehr so richtig. Wenn man heute realistisch schreiben wollte, müsste man ganz andere Bücher verfassen. Mein Ziel war von Anfang an, dass ich die einzelnen Fälle in den einzelnen Büchern beschreibe und auch weitgehend abschließe. Und dass ich in längeren Bögen eine Familiengeschichte erzählen kann, über drei Generationen.

Ich empfinde Ihre Romane als durchaus angenehme Abwechslung zu den vielen überkandidelten Ermittlerinnen und Ermittlern etwa im „Tatort“.

Ich hoffe immer, dass meine Leser das auch sagen. Dass sie das sozusagen normale Leben wahrnehmen – und zwischendurch geht es um Gewalt. Ich mag die Fallhöhe, die Diskrepanz zwischen diesen beiden Ebenen. Den familienpolitischen Kriminalroman statt des politischen.

Mit politischem Kriminalroman meinen Sie jene, bei denen es um Verschwörungen, Attentate, schlimme Entwicklungen geht?

Bei denen immer etwas droht. Ich habe Angst, dass da das Ideologische ziemlich rausschwingt. Wenn man sich darauf einlässt, droht immer eine höchst peinliche Gefahr: Man landet am Ende auf dem Stellplatz der Ideologien. Es gibt darin auch häufig eine Bewertung der handelnden Personen. Das möchte ich unbedingt vermeiden. Das Politische schwingt ja ohnehin immer mit rein, das geht gar nicht anders. Da sagt einer ein paar Sätze, da ahnt man schon, wo er steht.

Sie sagten vorhin, Sie mussten sich ins Genre einarbeiten. Hatten Sie Vorbilder?

Ja, Truman Capote, „Kaltblütig“. Auch Camus, „Der Fremde“. Wie unprätentiös diese Geschichte erzählt wird. Ansonsten sind mein Einfluss eher Naturalisten. Ich mag Stimmungen, die Beschreibung von Wahrnehmung. 70 Prozent der Zeit, die ich an einem Krimi schreibe, verbringe ich damit, die Literatur ordentlich hinzukriegen. Mit Arbeit am Text. Allein dadurch blüht oft eine Figur auf, die eigentlich als Nebenfigur gedacht war. Charaktere, die unwichtig waren, kriegen plötzlich Leben. Das passiert nur durch den puren Schreibprozess. Und man selbst wundert sich, dass sich eine Figur einen solchen Raum nimmt.

Ich habe mir von Ihrem jüngsten Roman, „Die Schülerin“, notiert, dass ein Lehrer sagt: „Viele Menschen sind von Gewalt fasziniert. Schalten Sie den Fernseher ein.“ Ist das, um zurückzukommen zum Anfang unseres Gesprächs, der Grund für den Krimi-Boom?

Das Faszinosum sind die eigentlich unzugänglichen Bereiche der Gesellschaft. Gewalt, Dunkelheit. Es ist noch spannender, wenn es True Crime ist, wenn man sagt, das ist wirklich passiert. Und der politische Krimi hat eine tolle Handhabe, das noch zu erweitern, auf das Interesse des Zeitungslesers einzugehen. Auf Symposien und so ist das inzwischen eine Legitimation für den Krimi – jetzt rede ich aber schon wieder dagegen.