„Krüppeltext oder Vom Gehen“: Jan Kuhlbrodt erhält den Alfred-Döblin-Preis 2023
Der an Multipler Sklerose erkrankte Schriftsteller Jan Kuhlbrodt macht seine Erfahrung des Leidens und der veränderten Wahrnehmung zu Literatur.

Die Entscheidung für den Siegertext im Wettbewerb um den Alfred-Döblin-Preis hat sich die Jury sehr schwer gemacht. Doppelt so viel Zeit wie vorgesehen – zwei Stunden statt einer – brauchte sie, um sich für Jan Kuhlbrodt auszusprechen und seinen Manuskriptauszug „Krüppeltext oder Vom Gehen“. Was sie bewogen hat, ihn den anderen zwei Kandidatinnen und drei Kandidaten des Lesetags vorzuziehen, packte sie dann in eine klare Begründung aus fünf Sätzen.
Er habe eine vielschichtige Prosa geschrieben, „die sich mit großer Unerschrockenheit, erstaunlicher Komik und theoretischem Witz der eigenen MS-Erkrankung stellt“. Die Jury benennt hier das Offensichtliche des Textes, der als Untertitel auch in Klammern den Namen „Die Ms-Files“ trägt. Jan Kuhlbrodt, 1966 im damaligen Karl-Marx-Stadt geboren und heute in Leipzig lebend, kann sich wegen Multipler Sklerose nur noch mithilfe eines Rollstuhls fortbewegen. Davon spricht auch das Ich seines vorgestellten Prosa-Ausschnittes.
Die Utopie einer Welt ohne Gravitation
In der Jurybegründung heißt es weiter: „Was ihm inzwischen am schwersten fällt, das Gehen, wird dabei zum Leitmotiv eines erfahrungssatten szenischen Panoramas. Darin verarbeitet er Erinnerungen, Reflexionen und Selbstbeobachtung und spannt eine Linie vom Hohelied über Sören Kierkegaard bis hin zu Antonio Gramsci. Die papierene Welt der Bücher wird ihm zur Gegenlandschaft, in der die Utopie einer Welt ohne Gravitation aufscheint. Verzweiflung und ein feines Gespür für sinnliche und sprachliche Nuancen werden immer wieder kunstvoll ins Gleichgewicht gebracht.“
Jan Kuhlbrodts Text ist noch nicht ganz abgeschlossen und damit ein schönes Beispiel für die Idee des Preisstifters Günter Grass, Autoren zu unterstützen, bevor ihr Werk ans Licht der Öffentlichkeit kommt. Seit 1979 hat der im Zwei-Jahres-Rhythmus vergebene Preis nun schon zu 24 Trägern gefunden, zum Beispiel Katja Lange-Müller, Jan Faktor, Eugen Ruge, María Cecilia Barbetta, Ulrich Woelk und zuletzt Deniz Utlu. Viele Jahre saß Grass selbst mit im Literarischen Colloquium Berlin und diskutierte mit denen, die ihr Manuskript vorstellten. Es herrschte eine Werkstattatmosphäre.
Um den Verlust dieser Stimme, ja dieser Stimmung auszugleichen, kamen die Ausrichter vom LCB und der Akademie der Künste auf die Idee, der dreiköpfigen Jury noch interessierte Kollegen aus dem Literaturbetrieb dazuzuholen, die sich anders als das normale Publikum auf die Lesungen vorbereiten können. Merkwürdigerweise entschieden sich in diesem Jahr die Juroren Andrea Zederbauer, Nico Bleutge und Gregor Dotzauer, das öffentliche Diskutieren komplett jenen vier Außenstehenden zu überlassen.
Sie gaben im Laufe des Lesetags, der kurz nach 10 Uhr in der Villa am Wannsee begonnen hatte, nicht zu erkennen, warum sie aus insgesamt 600 Einreichungen genau jene zwei Frauen und vier Männer ausgewählt hatten und nicht andere. Sie ließen sich nicht durch Bemerkungen, Fragen oder gar Kritik in die Karten gucken, wer von ihnen in der Vorauswahl vielleicht Thomas Hettche oder Christian Griebel, Franz Friedrich, Patricia Hempel oder Roman Ehrlich bevorzugt hatte. Sie schätzten die Texte nicht ein. Sie gaben nur abwechselnd vorab eine neutrale Einleitung, ein bisschen biografisch, ein bisschen auf frühere Veröffentlichungen der Kandidaten hinweisend. Und sie stellten jeweils eine „Impulsfrage“ an die vortragende Person, was als Ankündigung leicht einschüchternd klang, aber dann doch nur inhaltlich auf den Text wies.
Thomas Hettche sagte vor seiner Lesung, er fühle sich wieder wie 25, denn er habe im Jahr 1990 seine erste Lesung aus seinem ersten Roman „Ludwig muss sterben“ auch im Literarischen Colloquium abgehalten. Sein neuer Text greift das Vergehen von Zeit auf. Sein Ich-Erzähler bemerkt mit Schrecken, als er sein Spiegelbild entdeckt, wie sehr er sich von seinem früheren Selbst entfernt hat. Währenddessen hat sich auch die Gesellschaft verändert, das blitzt nebenbei auf, denn der Mann hat wegen eines Vorwurfs seine Arbeit an einer Universität verloren, die Verhältnisse in der Schweiz, wo er das Ferienhaus der Kindheit aufsucht, sind andere geworden, was bei einer Zugkontrolle kurz und bedrohlich anklingt – und dann muss auch eine Naturkatastrophe stattgefunden haben. „Die Stille hatte die Farbe der Nacht und legte sich mir so kalt auf die Haut, dass es mich ängstigte“, schreibt Hettche.
Was den einen der Mitdiskutanten, Samir Sellami, eher erschreckte, nämlich „die geradezu gespenstische technische Meisterschaft“ des Autors, münzte eine seiner Kolleginnen in der Redner-Reihe, Claudia Hamm, in ein echtes Lob, nämlich, „wie unglaublich klanglich“ der Text geschrieben sei, jedes Wort habe seinen Platz. Wie atmosphärisch das wirklich klingt, wie die vielversprechende Anlage sich fortsetzt, kann bald jeder frei von einem Wettbewerb überprüfen. Der Roman „Sinkende Sterne“ erscheint Anfang September bei Kiepenheuer & Witsch. Hettches Lektor saß mit im Publikum, wie überhaupt mehrere Verlagsvertreterinnen und Agenten die Gelegenheit nutzten, hier Texte zu hören, die zum Teil noch im Entstehen sind. Nicht alle Autorinnen und Autoren haben schon einen Vertrag für ihr Buch.
Zuletzt veröffentlichte er Texte zur Pandemie
Im Falle von Jan Kuhlbrodt hat der kleine Berliner Gans-Verlag vorab die Presse darauf hingewiesen, dass sein Autor gerade erst ein Buch veröffentlicht hat, „Schrift unter Tage“. Das sind Essays und Kolumnen, die während der Corona-Pandemie entstanden sind. Der neue, ausschnittsweise am Sonnabend vorgestellte Text ist auch zur Veröffentlichung bereits im September vorgesehen.
Kuhlbrodt, der schon mehrere Gedichtbände herausgebracht hat, schreibt hier zwar Prosa, aber er lässt Verse mit einfließen und sein Erzählstil wechselt vom Erlebten und Beobachteten zum Analytischen. Wenn ein Satz wie „Ich kann mich heute nicht mehr daran erinnern, wie es ist, zu gehen“ die Leserinnen und Zuhörer drastisch mit dem erkrankten Ich konfrontiert, bereitet der Autor damit nur den Boden für Assoziationsketten. Er will nicht erschrecken, sondern zum Sehen und Fühlen einladen, er lässt Gedanken Wege abschreiten und manchmal stolpern, als würden sie wie seine Füße gebremst. Und obwohl das Publikum im LCB am Samstagabend schon des Wartens auf eine Entscheidung müde war, antwortete es auf die Nachricht der Jury mit einem Applaus, herzlich und lang.