Alleine sterben unter Menschen: „Oben Erde, unten Himmel“
Milena Michiko Flašar erzählt auf berührende Weise vom Leben in den Städten der Gegenwart. Sie gibt etwas Helles in ein dunkles Thema.

Suzu, die Erzählerin des Romans, deutet mit dem ersten Satz schon eine Veränderung an: „Ich war gerne allein.“ Wir wissen damit, dieses Alleinsein geht entweder vorüber oder es wird nicht mehr angenehm sein. Es lohnt sich, bei Milena Michiko Flašar genau auf die Aussagen der Sätze zu achten. Sie gibt ihrer Erzählerin einen analytischen Blick. Die Distanziertheit, mit der sie anfangs nicht nur über ihr Umfeld, sondern auch über sich selbst erzählt, als wolle die junge Frau sich in Einzelteile zerlegen und irgendwo wegsortieren, bewirkt eine seltsame Faszination: Diese Kühle macht zugleich neugierig und unbehaglich.
Suzu, die ihre Arbeit als Kellnerin pflichtbewusst erledigt hatte, wird wegen mangelnden Liebreizes gekündigt. Und der Mann, den sie mehrfach getroffen hatte, ist auf einmal von der Dating-Plattform verschwunden. „Ich hatte erstens eine Beziehung geführt, die keine gewesen war, und zweitens war mir bescheinigt worden, dass ich ein Loser war. Ein Assi. Ein Freak. Waren da irgendwelche Kameras, die mich filmten?“ Das grob nach den Jahreszeiten „Winter, Frühling“, „Sommer“ sowie „Herbst und wieder Winter“ unterteilte Buch erzählt fortan von einer Lebensphase voller Veränderungen. Auch der Titel „Oben Erde, unten Himmel“ deutet an, dass sich Verhältnisse wenden werden.
„Kodokushi“: Der einsame Tod
Die Distanziertheit, mit der Suzu ihr Leben führt, macht sie zur idealen Kandidatin für den nächsten Job. Der Chef entscheidet sich schon im ersten Gespräch für sie – als Leichenfundortreinigerin. Diese Arbeit bildet die Grundlage dafür, dass sich der Roman auf vielschichtige Weise zu einer Analyse einer Gesellschaft der Vereinsamung und Vereinzelung entwickelt, er wird nach dem deprimierenden Beginn immer offener. Suzus Veränderung dabei ist behutsam, zuweilen mit Selbstironie erzählt.
Die in Wien lebende Autorin führt nicht zum ersten Mal mit einem Roman nach Japan; das Land ist ihr durch ihre Mutter vertraut, die von dort kommt. In der nicht weiter bezeichneten Großstadt leben die Menschen aneinander vorbei, wissen kaum etwas voneinander. Und so deuten auch die Wohnungen Verstorbener auf Verlassenheit. Der würdevolle Umgang mit den Schauplätzen erzählt viel über das kleine Team, das zum Einsatz kommt, wenn Geschichten zu Ende sind. Es gilt, die Wohnungen wieder vermiet- oder verkaufbar zu machen. Todesspuren und der Staub der Zeit müssen verschwinden. Und ohne die Menschen erlebt zu haben, lernen die Fundortreiniger die Toten kennen.
Milena Michiko Flašar hebt einzelne Fälle heraus. Aus den oft etwas ungelenken Gesprächen Suzus mit ihren Kollegen kommen nach und nach mehr Aspekte sozialer Isolation hervor. Sorgfältig mit einigen wenigen japanischen Begriffen und Eigenheiten bestückt, die im Anhang erklärt sind, erzählt der Roman von der Möglichkeit, sich aus der Anonymität zu wagen, ohne gleich leutselig zu werden. Milena Michiko Flašar hält da bewundernswert die Balance.
Das wichtigste japanische Wort im Roman steht für ein gesellschaftliches Phänomen, das eine Arbeit wie die hier beschriebene erst notwendig macht: „Kodokushi“. Das ist das Sterben von Menschen in sozialer Isolation, deren Leichen oft lange Zeit unentdeckt bleiben. Nicht Verwandte oder Freunde, sondern durch den Geruch beunruhigte Nachbarn oder den vollen Briefkasten verwunderte Postboten melden den einsamen Tod. Herr Sakai, Suzus Chef, erklärt ihr das Schlüsselwort in einem Dialog. Während Frauen oft quatschen würden, „um den Stress loszuwerden, der sich im Laufe des Tages bei ihnen angesammelt hat“, würden Männer dazu neigen, „den großen Macker zu markieren“. Sobald es emotional würde, igelten sie sich jedoch ein. „Es ist deshalb kein Zufall, dass die meisten Kodokusha dem starken Geschlecht angehören.“ Und so kommt es, dass manche allein lebende Männer zu Lebzeiten selbst die Fundortreiniger beauftragen.
Einmal lässt sich Sakai auf die Begleitung durch ein Fernsehteam ein, in der Hoffnung, die Öffentlichkeit für die Kodokusha zu interessieren. Wie groß ist die Enttäuschung, als klar wird, nur Sensationsgier trieb die Reporter. Die Geschichte von einem geistig behinderten Jungen, der neben seinem toten Vater ausharrte, erzählt davon, wie der Mann zuvor verzweifelt versuchte, selbst für sein Kind zu sorgen, das Erzieher und Ärzte lieber in eine Anstalt stecken wollten. Wie ein Querulant zog er sich „aus dem System“ zurück. Er war selbst im Heim aufgewachsen und wollte diese Erfahrung nicht weitergegeben wissen.
Takada sammelt Wörter
Bei Suzu beginnt hier die Schale um ihre Gefühlswelt aufzubrechen, sie erinnert sich an den Tod ihres Großvaters. Was jedoch nicht bedeutet, dass die Autorin ins Plaudern verfiele. Ihre sachliche Sprache wechselt von starken Vergleichen in sanftere Bilder. „Einen Moment lang verlor ich die Orientierung. Oben und unten, Himmel und Erde. Der Regen war eine Wand aus Schnüren. Er verband Himmel und Erde miteinander.“ Dieser Eindruck wird sich später in einem Gespräch mit Sakai wiederfinden, wenn er Suzu erklärt, warum er die Firma gründete. Das ist der Moment, da er sie auch bittet, auf den sensiblen Kollegen achtzugeben, der mit ihr angefangen hat.
„Oben Erde, unten Himmel“ spielt in Japan, was man an Bräuchen erkennt, am Essen und an der Extremform des Wohnens in winzigen Schachteln. Und doch erzählt der Roman von der Beziehungsarmut in den Städten überhaupt. Wenn die Erzählerin konstatiert, „Krankenbesuche gehörten in eine Zeit, in der man sich seitenlange Briefe schrieb“, während man heute per Handy fragt, ob man vorbeikommen solle und das Nein einrechnet, dann weist das nicht nur auf die Pandemie.
Suzus Kollege Takada, die dritte wichtige Person im Kosmos dieses Buches, scheint so gar nicht ein Fall für das Einsamkeitsproblem zu sein. Er beobachtet seine Umwelt aufmerksam, macht sich ständig Notizen. Er sammele Wörter, sagt er, „ich angele sie aus den Mündern der Leute heraus“. Von den rund 17.000 Wörtern, die der Mensch am Tag spreche, seien die meisten Lückenfüller, doch einige verdienten es, festgehalten zu werden. Takadas Funktion innerhalb des Romans ähnelt der eines Buches wie diesem innerhalb der Gesellschaft. Milena Michiko Flašar setzt die Worte mit Bedacht, sie hält fest, was andere übersehen, sie pustet etwas Wärme in die Gefühlskälte. Und so bleibt von dem Roman, in dem Menschen unter die Erde gebracht werden, ein heller, belebender Eindruck.
Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel. Roman. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023. 302 Seiten, 26 Euro