Michael Köhlmeiers „Frankie“: Bildungsroman mit Damenpistole

Alle Finessen der Erzählkunst nutzt Michael Köhlmeier für diese düstere Geschichte, die merkwürdig hell leuchtet: ein Meisterwerk. 


Michael Köhlmeier, einer der vielseitigsten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. 
Michael Köhlmeier, einer der vielseitigsten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Peter-Andreas Hassiepen

Was denn er für einer sei, fragt der Großvater den Enkel. Die Frage ist einerseits schwer zu beantworten, aber andererseits berechtigt. Denn der Großvater Ferdinand, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden ist, saß bereits hinter Gittern, als der Enkel Frank geboren wurde. Jetzt ist der Junge 14 Jahre alt, genaugenommen fast 14 Jahre alt. Und schnell stellt der Großvater fest, was der für einer ist: „Ein Schlauer, ha?“

Wer nun glaubt, Michael Köhlmeiers Roman „Frankie“ entpuppe sich als eine wohlig-entspannende Familiengeschichte, wird auf herrlich verstörende Weise eines anderen belehrt. Dieser Großvater ist keiner für den Ohrensessel. Vielmehr hat er es faustdick hinter den Ohren. Welche Verbrechen ihn ins Gefängnis gebracht haben, erfahren wir nicht, aber es wird schon etwas sehr Schlimmes vorgefallen sein. Insgesamt hat er, der nun 71 Jahre alt ist, 26 Jahre seines Lebens in einer Zelle verbracht.

Frank Thaler fühlt sich von diesem ganz und gar nicht verbindlichen, sondern grantigen und groben Mann angezogen. Aus „Langeweile und Neugierde“, wie er bekennt. Da mag die ängstliche Mutter noch so sehr vor einem allzu engen Kontakt warnen. Sie weiß um die Untiefen ihres Vaters, nennt allerdings keine Details, sondern fasst zusammen: „Er glaubt, er hat nichts zu verlieren. Solche Leute sind gefährlich!“ Er sei kein Vorbild, sondern „ein Tier“. Dazu passt, dass mehrfach Tierfilme im Fernsehen erwähnt werden, in denen es ums Fressen und Gefressenwerden geht.

„Frankie“: Ein Bildungsroman mit Damenpistole

Frank erzählt uns diese Geschichte aus seiner Sicht. Der Jugendliche lebt allein mit der Mutter, die „Garderoberin“ an der Volksoper in Wien ist. Sein Vater Harald, der nicht mit ihr verheiratet war, hat die Kleinfamilie frühzeitig verlassen. Frank denkt gerne über Wörter nach und kocht jeden Mittwoch ein Abendessen. Seine Spezialität ist Gemüse-Risotto. Er sagt: „Wenn man selbst kocht, schmeckt einem selten etwas im Gasthaus.“ Wer ihn Frankie nennt, was viele tun, wird zurechtgewiesen. Er heiße Frank. Da komme kein ä und kein ie drin vor. Fun fact am Rande: Dass nun der Roman, in dem er alle Karten auf den Tisch legt, „Frankie“ heißt, wird ihm sicher nicht gefallen.

„Frankie“ ist ein Bildungsroman mit Damenpistole. Bei der Waffe handelt es sich um ein Geschenk des Großvaters an den Enkel. Eine Miss Raven MP 25 Mouse Gun Saturday Night Special. Mit Verzierung. Sechs Kugeln stecken am Anfang darin. Am Ende sind es noch zwei. Die Details lassen wir hier selbstverständlich einmal außen vor, um nicht das Lesevergnügen zu minimieren. Zwei Autos werden auch geklaut – das eine Fahrzeug schließt der Senior kurz, das andere bringt der Junior in seine Gewalt.

Wie man erwachsen wird, wie schwierig die Frage nach dem Warum ist, was das Rationale und das Irrationale unterscheidet und wie der Zufall den Weg weist, auch den ins Unheil, wird hier mit allen Finessen der Erzählkunst ausgebreitet. Die Mutter zitiert gerne den Volksmund: „Was der Löwe nicht kann, das kann der Fuchs“. Da fragen wir uns schon bald: Ist womöglich Großvater Ferdinand der Löwe und Enkel Frank der Fuchs?

Ein Generationen-Duell voller Überraschungen

Das Generationen-Duell von Opa und Enkel steckt voller Überraschungen. Da kommt es bereits im dritten Kapitel zu einem ersten Showdown – nicht um zwölf Uhr mittags, sondern gegen Mitternacht. „In dieser Nacht“, so lässt uns Frank an seinem Werden teilhaben, „machte ich die Erfahrung, dass man manchmal Dinge weiß, die man nicht wissen kann, aber man weiß diese Dinge nicht weniger deutlich, als wenn sie wissenschaftlich bewiesen wären.“ Und er fügt aufmunternd hinzu: „Es ist nicht so kompliziert, wie es sich ausspricht, das muss ich dazusagen.“ Was der Junge alles weiß und kann, das zeigt sich auch beim zweiten Showdown, mit dem die Geschichte endet. Da lernen nicht nur Franks Vater und dessen Freundin Lexi das Staunen, sondern auch die Leserinnen und Leser.

In fünf Kapiteln wird eine düstere Geschichte erzählt, die merkwürdig hell leuchtet. Das mag an der moralinfreien Schilderung des jungen, gewitzten, coolen und zuweilen altklugen Ich-Erzählers liegen. Auch wird hier nichts breitgetreten, sondern es dominiert das zügige Voranschreiten – mit „langen Schritten“, wie der Großvater Ferdinand sie macht. Die handelnden Figuren verfügen schon nach wenigen Szenen über Farbe und Schärfe. Und ihre Wortwechsel, gerade auch in den entscheidenden Szenen, sind knapp und messerscharf.

Michael Köhlmeier: erzählerische Virtuosität

Der Autor setzt Ton, Tempo und Thema mit einer atemberaubenden Souveränität. Diese speist sich aus einem reichen Erfahrungsschatz als Verfasser einer umfänglichen Prosa und als Deuter vieler Sagen und Märchen. Zur Kunst, die den Meister macht, gehören Andeutungen und Verzögerungen. Und mehr noch, dass nicht alle Fragen beantwortet und nicht alle weißen Flecken ausgemalt werden. So entsteht Freiraum für die Phantasie.

Michael Köhlmeier legt mit „Frankie“ ein schmales Meisterwerk vor. Schmal wegen der nur 200 Seiten nach dem Tausend-Seiter „Matou“ aus dem Jahre 2021. Das ist die Autobiographie eines Katers, der sprechen, lesen und mit seiner tintenblauen Kralle schreiben kann. Seine sprichwörtlichen sieben Leben nutzt er dazu, die „Aufklärung aus der Sicht eines Katers von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart“ zu schildern.

Dass sich bei Michael Köhlmeier die Formen und Themen von Buch zu Buch ändern, bezeugt seine erzählerische Virtuosität. Großvater Ferdinand ist ein Schlauer, Enkel Frank ist womöglich sogar noch schlauer, aber der Allerschlaueste in diesem Terzett ist der Autor selbst.

Kaum möchte man akzeptieren, dass dies schon das letzte Wort über Frank Thaler gewesen sein soll. Es wäre jedenfalls schön, eines Tages zu erfahren, wie der Junge aus dem Wald an der Raststätte Lindach Nord hinauskommt, in den er am Ende des Romans hineingeht. Vorerst wissen wir also nicht, ob Frank die Kurve im Leben noch kriegen kann, noch kriegen will, nach dieser Lehrzeit mit dem Großvater. Aber dass „Frankie“ seinen Weg zum Lesepublikum finden wird, steht außer Frage.

Michael Köhlmeier: Frankie. Roman. Hanser, München 2023. 206 Seiten, 24 Euro.