Nachruf auf Kenzaburo Oe: Gegen den kollektiven Wahnsinn des Krieges
Der Literaturnobelpreisträger von 1994 verband stets das Persönliche mit der Gesellschaft. Kenzaburo Oe war zur Jahrtausendwende Gastprofessor an der FU Berlin.

Als Kenzaburo Oe 1994 den Literaturnobelpreis erhielt, sprach er in der Dankrede über die Ursprünge seines Schreibens: Er gehe von seinen persönlichen Angelegenheiten aus und verbinde diese dann mit der Gesellschaft, dem Staat und der Welt. Leserinnen und Leser irgendwo auf der Welt dürften darin die Antwort auf die Frage finden, warum sein Werk so zugänglich ist: Jeder findet eine Tür, in Oes Bücher hineinzugelangen.
Die Erfahrung von Krieg und Nachkrieg des 1935 auf der südlichen japanischen Insel Shikuko Geborenen, die literarische Prägung durch seine Kindheitshelden Tom Sawyer, Nils Holgersson und durch die Comics der US-Amerikaner, später die Beschäftigung mit Sartre im Romanistikstudium, der frühe Verlust des Vaters, die schwere Behinderung seines Sohnes – all das bildet die Nährlösung für die Erzählungen und Romane Oes.
Der Druck auf die Jungen
Schon mit Anfang Zwanzig begann er zu publizieren und wurde früh von der japanischen Literaturkritik anerkannt. Auf Deutsch kann man ihn seit den 1980er-Jahren lesen, im Osten durch Ausgaben bei Volk und Welt, im Westen bei S. Fischer. Im Wintersemester 1999/2000 war Kenzaburo Oe der dritte Autor, der im Rahmen der Samuel-Fischer-Gastprofessur an das Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin kam, um hier zu lehren und mit den Studierenden über seine Arbeit zu sprechen.
Welchen Druck die Gesellschaft auf junge Menschen ausübt, gehört zu den wichtigen thematischen Linien im Werk des Nobelpreisträgers. Sehr eindrücklich findet sich das im Roman „Reißt die Knospen ab“, in dem Jugendliche aus einer Besserungsanstalt in ein entlegenes Dorf verbracht werden, auf sich gestellt wie in William Goldings „Herr der Fliegen“. „Es war eine Zeit des Mordens“, schreibt Oe. „Gleich einem lange andauernden Hochwasser überflutete der Krieg mit einem kollektiven Wahnsinn die feinsten Verästelungen menschlicher Gefühle, die verstecktesten Winkel ihrer Körper, die Wälder, die Straßen und den Himmel.“
Kenzaburo Oe verband in seinen Büchern die Schicksale der Figuren mit dem Wettstreit zwischen Tradition und Moderne, zwischen Glauben und Wissenschaft in Japan. Geht er in „Der stumme Schrei“ (1967) dem Verhältnis zum Sterben durch Krankheit oder Selbsttötung nach, beschäftigt ihn im 1993 erschienenen Roman „Grüner Baum in Flammen“ der Umgang mit Religion, Aberglaube und Gesundheitssystem. Dabei sind die großen Fragen stets ins Individuelle rückübersetzt.
Öffentlich nahm er wiederholt Stellung, indem er von seinem Land eine eindeutige pazifistische Haltung forderte und vor den Gefahren der Atomenergie warnte. Kenzaburo Oe ist, wie sein Verlag Kodansha am Montag mitteilte, am 3. März mit 88 Jahren an Altersschwäche gestorben.