Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzählen“

Der Roman „Die Möglichkeit von Glück“ von Anne Rabe spielt im Osten nach 1990. Sie lenkt den Blick auf rechte Tendenzen und Gewalt – und widerspricht Dirk Oschmann.

Anne Rabe
Anne RabeAnette Hauschild/Klett Cotta Verlag

Der Osten ist gerade wieder Thema in den öffentlichen Debatten und dabei zeigt sich, dass die Unterschiede in den Positionen oft mit biografischen Erfahrungen zu tun haben. Anne Rabe, die jetzt den Roman „Die Möglichkeit von Glück“ über eine SED-Familie aus der DDR vorlegt, hat keine eigenen Erinnerungen an den untergegangenen Staat. Sie war drei Jahre alt, als die Mauer fiel, und beschäftigt sich nun auch mit dem Schweigen zwischen den Generationen. Ein Gespräch über Perspektiven.

Frau Rabe, ich habe anfangs etwas gefremdelt mit Ihrem Roman. Vielleicht, weil ich der Generation angehöre, mit der Sie sich auseinandersetzen. Ich merkte, wie ich darauf lauerte, was Sie, 20 Jahre jünger, zu sagen haben.

Kann so eine Auseinandersetzung nicht auch ganz interessant sein?

Sie sagen es, deshalb las ich mit zunehmenden Interesse. Sie haben bereits Theaterstücke und auch Essays zum gesellschaftlichen Klima nach dem Ende der DDR verfasst. Wie kam es nun zum Roman? Warum haben Sie kein Sachbuch geschrieben?

Weil die Fiktionalisierung mir mehr Freiheit lässt. In einigen Bereichen gibt es einfach zu wenige Zahlen, um sie als Fakten beschreiben zu können. Das betrifft zum Beispiel Kindesmisshandlung, da wurde die Forschung in der DDR eingestellt, auch sexualisierte Gewalt war in der DDR tabuisiert, auch dazu gab es keine Studien, nur eine lose Sammlung von Fragebögen von Bürgerrechtlerinnen. Im Roman kann ich Dinge nebeneinanderstellen und nebeneinander wirken lassen, ohne sagen zu müssen, dieses folge zwangsläufig aus jenem.

Im vergangenen Jahr kamen drei Romane heraus, die diese Zeit behandeln: „Nullerjahre“ von Hendrik Bolz, „Wir waren wie Brüder“ von Daniel Schulz und „Aus unseren Feuern“ von Domenico Müllensiefen. Da waren Sie schon beim Schreiben. Wie ging es Ihnen damit?

Mit Hendrik und Daniel bin ich befreundet, wir haben darüber gesprochen. In der Musik zum Beispiel fanden sich schon früher harte Auseinandersetzungen mit der Gewalt jener Zeit. Da gibt es einen Song von Audio 88, der heißt „Cottbus“. Oder „Onkelz Poster“ von Finch Asozial und Tarek K.I.Z., ziemlich heftig. Aber es haben bisher vor allem Männer darüber geschrieben. Und Manja Präkels „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ ist schon 2017 erschienen.

Lange hat man gedacht, wer erst um den Mauerfall geboren wurde, könnte es leichter als vorige Generationen haben mit den anderen Verhältnissen. Entsprechen die Orientierungsschwierigkeiten Ihrer Erzählerin Stine einer autobiografischen Erfahrung?

Die Fragen, die Stine umtreiben, sind Fragen, die auch ich mir gestellt habe. Als ich nach Berlin kam, merkte ich bei westdeutschen Freunden, dass sie Nazis zum Beispiel gar nicht erkannten. Erst mit Pegida entstand eine Sensibilität für Codes und Symbole, die bei den Demos und im Umfeld gezeigt wurden. Als 2019 die AfD bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen jeweils die zweitmeisten Stimmen erhielt, war man schockiert. Untersuchungen wie die Leipziger Autoritarismus-Studie zeigen, dass im Osten im Gegensatz zum Westen vor allem junge Leute die AfD wählen. Mich hat beschäftigt, wo das herkommt und warum das bleibt.

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Klett-Cotta
Zu Person und Buch
Anne Rabe, 1986 in Wismar geboren, lebt seit 2005 in Berlin. Sie studierte an der Universität der Künste Szenisches Schreiben, veröffentlichte Gedichte und Theaterstücke (z.B. „Achtzehn Einhundertneun – Lichtenhagen“), schreibt Drehbücher für TV-Serien („In aller Freundschaft“, „Warten auf’n Bus“) und Songs für ihre Band Lauter schöne Frauen.

Das Buch: Die Möglichkeit von Glück. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2023. 382 Seiten, 24 Euro

Lesungen auf der Leipziger Buchmesse: 28.4., 19 Uhr, Lange Leipziger Lesenacht, Moritzbastei; 29.4., 18.30 Uhr, „Ostdeutsche Schreibweisen“ mit Daniel Schulz und Michael Sollorz, Leipzig 04, Petersbogen

Lesung in Berlin: 3.5., 19.30 Uhr, Buchhandlung Chaiselongue, Dietzgenstraße 68, Pankow

Der Germanist Dirk Oschmann setzt sich in seinem sehr erfolgreichen Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ auch mit der Interpretation der AfD-Erfolge auseinander. Er verweist darauf, dass diese Partei nicht nur eine Westgründung, ist, sondern mit Ausnahme von Tino Chrupalla auch eine komplett westdeutsch besetzte Führungsspitze hat. Es ist also zuerst einmal eingeschleppt worden, oder?

Diese Leute sind nicht grundlos in den Osten gegangen. Ich kenne dieses Narrativ noch aus meiner Kindheit. Als die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen in Brand gesetzt wurde, 1992, hieß es, die Neonazis seien nur aus dem Westen angefahren worden. Die Eltern, die Lehrer, die wollten das immer von sich weghalten. Aber wir Jugendlichen kannten die Nazis ganz gut, die saßen neben uns am Strand, in den Klassen, im Sportverein. Es stimmt, dass die NPD nach der Wende klar die Strategie verfolgte, in den Osten zu gehen – weil sie dort Potenzial sah. Auch der Historiker Patrice G. Poutrus, der eher Oschmanns Generation angehört, hat beobachtet, dass Rechte und Rechtsextreme im Osten auf ein festes nationalistisches Weltbild trafen.

Aber die NPD hatte nicht viel Erfolg.

Stimmt. Sie hatte Hochburgen, etwa um Anklam herum, aber es war allgemein doch ziemlich verpönt, sich denen offen anzuschließen. Damals war die CDU auch noch härter in ihren Äußerungen, denken Sie an „Kinder statt Inder“. Die AfD erreicht jedoch mittlerweile in manchen Regionen 30 Prozent der Stimmen, wovon SPD und CDU nur noch träumen können. Und wenn Sie in einer Stadt leben, wo 30 Prozent AfD wählen, ist das ein rechtes Klima, in dem Sie leben. Das macht man sich in Berlin und Westdeutschland vielleicht gar nicht so klar.

Aus Ihrem Roman lese ich, dass meine Generation geschwiegen hat: „Nichts wurde erklärt. Aber du hast auch nicht gefragt. Stasi, Volkskammer, FDJ, Honecker, Mielke, Schalck-Golodkowski, MfS, SED, Blockparteien. Die Worte flogen durch die Luft wie Schwalben vor dem Regen, immer tiefer, immer dichter, und immer wurde so gesprochen, als müsste man wissen, was gemeint ist.“ Verstehe ich den Vorwurf richtig: Es wurde zwar geguckt, wer bei der Stasi war, aber wie viele von uns, eine Mehrheit, sich angepasst hat, darüber hat keine Aufklärung stattgefunden?

Nein, das ist kein Vorwurf. Das ist erst einmal eine Feststellung, eine Wahrnehmung. Da gibt es ja auch Unterschiede. Die Stine spricht mit Schulfreundinnen, die es auch anders erlebt haben in ihrem Elternhaus. In der Schule war die DDR aber zum Beispiel kein Thema. Und in vielen Familien wurde nicht darüber gesprochen, wie man wirklich gelebt hat, was man mitgemacht hat, was unterlassen. In einer Zeit der Transformation waren solche Gespräche vielleicht auch nicht möglich. So wurden Konflikte jedoch weitergetragen an die Kinder.

Bei einem Sachbuch denkt man beim Lesen über die Fakten nach, beim Roman ist man als Leser in der Regel anders involviert, weil man zur Identifikation mit einzelnen Figuren kommt. Haben Sie auch deshalb diese Form gewählt, um dieses Gespräch anzustoßen?

Das ist mir sehr wichtig. Das versuche ich auch auf Veranstaltungen. Oft frage ich das Publikum, ob sie wüssten, was ein Jugendwerkhof war, ob ihnen Torgau etwas sagt. Da wird jedoch meist geschwiegen. Aus Unwissenheit. Das finde ich katastrophal, auch den Opfern gegenüber. Man muss wissen, wo man herkommt, die Menschen waren ja nach 1990 nicht einfach andere. Ich möchte, dass die Diktaturgeschichte der DDR in die gesamtdeutsche Geschichte integriert wird. Warum hat das 40 Jahre lang so gut funktioniert? Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her, von der friedlichen Revolution her zu erzählen.

War das Schreiben auch manchmal schmerzhaft?

Auf jeden Fall, es war kein leichtes Schreiben. Die Perspektive dieser Figur ist ja radikal. Ich schreibe nicht ohne Grund von Scham. Da geht es nicht nur um die ältere Generation und frühere Überzeugungen, es gibt auch diese Geschichten aus meiner Generation: Wie Kinder und Jugendliche in meiner Kindheit andere auf übelste Weise gequält haben zum Beispiel. Und wenn man in einer Zeit aufgewachsen ist, in der die Erwachsenen keine Ansprechpartner waren, bleibt man auch mit dieser Scham und Schuld alleine.

Kann in diesem Dialog nicht auch das Buch eines Mannes sozusagen aus Ihrer Elterngeneration helfen – von Dirk Oschmann?

Ich habe da meine Zweifel. Meiner Meinung nach lässt er einfach zu viel aus. Wenn er behauptet, die ostdeutschen Männer waren die diskriminierteste Gruppe nach 1990, kann ich ihm nur widersprechen. Aus dieser Gruppe kam so viel Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten, gegen Andersdenkende oder auch Obdachlose. Da wurden Menschen ermordet. Herr Oschmann hat ein Gespräch mit mir, das auf der Leipziger Buchmesse stattfinden sollte, abgesagt. Soweit ich weiß, waren das keine Termingründe. In Interviews wehrt er sich gegen die Kritik an seinem Buch aus meiner Generation.

Aber er hat eine Diskussion angestoßen.

Dann muss man die auch führen. Nehmen wir die ökonomischen Fragen: Da wird ausgeklammert, auf welchem Stand die Wirtschaft im Osten damals war und wie das dann ablief. Nach der Vereinigung haben nicht selten auch die alten Seilschaften mitgeholfen, Betriebe zu schließen und an westdeutsche Konkurrenten zu übergeben. Man kann den Osten 30 Jahre nach der Wende nicht als homogene Masse erzählen. Es gab so viele Menschen, die nach 89 keine Chance hatten, weil sie zum Beispiel in der DDR in der Opposition waren und deshalb in Gefängnissen saßen, ohne Ausbildung oder gar Abitur und Studium blieben.

Der Roman stellt phasenweise den Rechercheprozess mit dar, die Kapitel sind sehr unterschiedlich lang, er ist nicht linear erzählt. Wie haben Sie sich für diese Form entschieden?

Das Buch sollte so sein, wie wenn man nachts wachliegt und einem die verschiedensten Dinge durch den Kopf gehen, man von einem Punkt zum nächsten kommt. Dazu gehören auch die Erinnerungen der Personen, mit denen ich gesprochen habe, deshalb gibt es nicht nur ein Ich, sondern zuweilen auch ein Du. Die Erzählstimme sollte unzuverlässig und zweifelnd sein, weil sie ihren Erinnerungen nicht einfach traut und auch den Rechercheergebnissen nicht. Ich finde es immer erstaunlich, wenn Stasiakten so betrachtet werden, als wären sie Dokumentationen von objektiven Verfassern ohne eigene Motivlage.

„Die Möglichkeit von Glück“ ist ein hoffnungsvoller Titel, aber Glück ist sparsam verteilt in dem Buch.

Es ist eine Metapher für die Wende oder Revolution. Die Möglichkeit von Glück ist für mich auch die Gelegenheit der Aufarbeitung, der Aufklärung, der Begegnung. Dann kommt man vielleicht auch zu einem anderen Miteinander.