Peter Handke und sein Blick auf die kleinsten Dinge
Über die jüngsten Bücher des Nobelpreisträgers Peter Handke: Die Erzählung „Zwiegespräch“ und das Journal „Innere Dialoge an den Rändern“.

Der Großvater in Peter Handkes kurzer Erzählung „Zwiegespräch“ hätte sicher viel zu erzählen gehabt, nicht allein vom „Großen Krieg“ des letzten Jahrhunderts. Aber als ihm im hohen Alter ein Blindband geschenkt wird, ein Buch mit weißen Seiten, bleibt dieses leer. Erst in den letzten Lebensstunden sieht man ihn mit den Fingernägeln an die Wand des Sterbezimmers kratzen: Schreibbewegungen, die ins Leere führen.
Handke selbst hat im Augenblick der Gefahr sein Notizbuch nicht leer gelassen. In einer existenziellen Schreib- und Lebenskrise 1975/76 in Paris hat der damals noch junge, aber schon berühmte Schriftsteller die für seine Großvaterfigur pathologisch gewordene Sprachunfähigkeit überwunden, indem er unermüdlich aufschrieb, was es wahrzunehmen gab – Tag für Tag.
Das war „Schreiben im Ausnahmezustand“, und dieses sei, wie Handke später sagte, das eigentliche Schreiben. Zum ersten Notizbuch sind bis heute hunderte hinzugekommen. Aus ihnen wählt Handke Beschreibungen von Natur und Alltag, Reflexionen, Lesefrüchte und Kunstbetrachtungen aus und fügt sie in Büchern zusammen, die unter dem Titel „Journale“ erscheinen. In ihnen, von „Das Gewicht der Welt“ (1977) bis jetzt, entdeckt man Handke, der im Dezember seinen 80. Geburtstag feiert, neu.
Bei der Lektüre des neuen Journals „Innere Dialoge an den Rändern“ staunt man etwa, wie viele unscheinbare Eindrücke – Handke sagt „Nebenerscheinungen“ – der Dichter notiert. Besonders Augenblicksbilder der Natur werden in diesen Aufzeichnungen aus den Jahren 2016 bis 2021 zum „Forschungsgegenstand“, wie „die Lichtverhältnisse im Lauf eines Frühherbsttages in den Blütenmulden der Falläpfel gefüllt mit dem Vorabendregen“. Handke schafft ein Bewusstsein dafür, dass sich unser Leben aus kleinsten Dingen zusammensetzt, die aufzuschreiben man nicht nachkommt, hat man ihnen erstmal Aufmerksamkeit geschenkt.
Peter Handke als früher Vertreter des „Nature Writing“
Im Journal erlebt man Handke als Naturbetrachter, der ganz im Zyklus der Jahreszeiten lebt, dem „die erste Wildentenformation im Himmel“ den Herbst ankündigt. Wie ein bildender Künstler sucht er mit akribischer Genauigkeit innovative Worte für die Farben der Dinge – so nennt er „das kräftige Düster des Ewigen Hügels der Niemandsbucht“ in der Nähe seines Wohnorts Chaville bei Paris etwa „Kraftgraubraunschwarz“. Vorbild ist ihm Goethe, dessen naturwissenschaftliche Studien ihm vertraut sind, etwa die „Farbenlehre“, die er während der Arbeit an der Cézanne-Schrift „Die Lehre der Sainte-Victoire“ 1980 zu Rate zog. Handke, der im neuen Journal die „Majestät“ der Erde zur Sprache bringt, der Natur- und Tierwelt zu ihrem Recht verhelfen will, ist vielleicht sogar ein Vertreter des heute viel diskutierten „Nature Writing“.
Zumindest war Peter Handke schon in den Siebzigerjahren klar, dass der Mensch wieder neu in Berührung mit der Natur kommen muss. Das hat ihm der Romantiker John Keats, den Handke im Journal zitiert, vor zweihundert Jahren vorgelebt, als in England der Modernisierungsschub einsetzte. Keats wanderte im Sommer 1818 durch die schottischen Highlands, schirmte sich vom aktuellen Weltgeschehen ab und wollte als „Mönch im Kloster seiner Imagination“ das Bildrepertoire für seine Dichtung auffrischen. Handke ist seinem Beispiel oft genug gefolgt und war viel zu Fuß unterwegs, zwischen 1987 und 1990 sogar als Weltreisender.
Handkes Notizen greifen ebenso auf das Gesellschaftsleben über, ein zitiertes „SMS-Gedicht von Emmanuel, dem Karosseriemaler“, ein Streifzug durch nächtliche Bars: „Leuchtturm des späten Sonntagabends: in der schon dunklen Bar läßt der Einzahnige, mit mir der letzte Gast, seinen Einzahn aufleuchten im Dunkel“. Diesen Blick für starke Bilder hat der Autor durch seine eigene Filmarbeit und Zeichnen, aber ebenso auf Streifzügen durch die Museen der Welt geschult. Sprachrhythmisch-musikalisch gefasst, schreibt Handke so gerade Randfiguren und Versprengten eine gelassene Würde ein. Auf andere Weise wird auch in seinen Lektüren die Suche nach gemeinschaftsstiftenden Werten sichtbar. So verbindet er mit Johannes vom Kreuz die Gabe der Sanftmut, mit Heimito von Doderer die der Treue.
Zwei Männer auf der Bühne der Erinnerungen
Im eingangs erwähnten „Zwiegespräch“, Ende März bei Suhrkamp erschienen, werden Handkes poetische Bilder erzählerisch lose verknüpft. Zwei Männer – dank der Widmung gibt man ihnen die Gesichter der verstorbenen Schauspieler Bruno Ganz und Otto Sanders – lassen auf einer inneren Bühne die Erinnerungen ihres Lebens aufspielen. Handke erweitert hier die Geschichte um seine eigene Herkunft aus der Familie eines Kleinhäuslersohns aus Kärnten, von der er bereits in „Wunschloses Unglück“ (1972) und in „Die Wiederholung“ (1986) erzählt hat. In „Zwiegespräch“ steht eine Großvaterfigur im Zentrum. Ein Kriegsrückkehrer, der ein Hornissennest mit Mörtel verschließt, der Schlangen quält. Ein Mann mit großen inneren Konflikten und dem tragischen Unvermögen, diese zu kommunizieren.
Wie Handke in den von ihm selbst so benannten „Ausnahmezuständen“ um Sprache für seine eigene Geschichte gerungen hat, zeigen die handschriftlichen Originale der Journale im Marbacher Literaturarchiv. Im Notizbuch „Die Zeiten und die Räume“ liest man vom Sommer 1978 im slowenischen Karst, wohin Handke mit seinem „Spießgesellen“, dem Bleistift, abtauchte, zeichnete und schrieb: die Vorarbeit zu „Langsame Heimkehr“ (1979) und zum neuen bildinspirierten Schreiben. Vollständig transkribiert, erscheint das Notizbuch in Kürze bei Suhrkamp.
Aber für Peter Handke ist Schreiben im ästhetischen wie ethischen Sinne auch „Schönschreiben“. So hat sich das anfängliche Gekritzel allmählich in ein kalligraphisches Schriftbild verwandelt. Eine bibliophile Ausgabe mit Faksimiles der „Kleinen Fabel der Esche von München“ (demnächst bei Wallstein) wird vielleicht verraten, was das heißt: „Die Erde wie die Welt schönschreiben.“
Peter Handke: Innere Dialoge an den Rändern. Aufzeichnungen 2016–2021. Jung und Jung, Salzburg 2022. 372 Seiten, 26 Euro
Peter Handke: Zwiegespräch. Suhrkamp, Berlin 2022. 67 Seiten, 18 Euro