Theresia Enzensberger: „Mich nerven die Neuköllner Start-upper in ihren Ferraris“

„Auf See“: Theresia Enzensbergers zweites Buch steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Es handelt von einer Zukunft, die wir bereits erleben.

Theresia Enzensberger
Theresia EnzensbergerMax Eicke für Berliner Zeitung

Theresia Enzensberger sitzt im Garten des Literaturhauses in der Fasanenstraße. Ein Sonnenschirm schützt sie vor den ersten dicken Tropfen eines lautstark heraufziehenden Gewitters. Sie wohnt hier um die Ecke, in Wilmersdorf: „2011 bin ich aus München nach Berlin gezogen und vor zwei Jahren dann von Neukölln hierher.“ Warum? Es sei da verrückterweise einfach zu teuer geworden. „Außerdem nerven die Start-upper in ihren Ferraris.“ Die Kellnerin nutzt eine Regenpause, um ihr einen Cappuccino zu bringen.

Dass Theresia Enzensberger junge Start-upper in schnellen Autos nicht gefallen, kann man sich nach der Lektüre ihres zweiten Romas „Auf See“ fast denken. Das Buch ist schwer anders zu verstehen denn als Kritik an einem männlich geprägten entfesselten Neoliberalismus. Die Hauptfigur und Icherzählerin Yada wächst auf der von ihrem Vater, Nicholas Verney, erdachten und erbauten Seestatt auf – einer schwimmenden Plattform mitten in der Ostsee.

Verney, in dem Buch meist nur Nicholas genannt, ist ein so genialer wie größenwahnsinniger Tech-Unternehmer aus Berlin, der, nachdem er von seinem Studium zurückkehrt, nicht weniger vorhat, als eine eigene Nation auf See zu gründen: „Die Seestatt war ein Triumph der modernen Bautechnik: Vierzig wie Waben miteinander verbundene Einheiten türmten sich zwischen zwei Dock- und Essensstationen und einer hochkomplexen Entsorgungsstation auf. Um die Insel herum ein mächtiger Wellenbrecher, dahinter Windräder, so weit das Auge reichte.“ So Beschreibt Yada ihr Zuhause.

Theresia Enzensberger
Theresia EnzensbergerMax Eicke für Berliner Zeitung

Dystopien zwischen Armut, Tech-Gurus und Klimakrise

Sie wird auf der Seestatt einer perfektionierten Optimierungsroutine unterzogen. Jeden Tag muss sie einen Stundenplan abarbeiten, der aus Meditation und Therapie sowie aus Business-Strategy und Software-Technik besteht. Ihr Vater lässt ihr heimlich Benzodiazepine verabreichen, in Form von Vitaminen. Als sie sich in ihre Yogalehrerin Rebecca verliebt und von den prekären Bedingungen auf dem Mitarbeiterschiff erfährt – im Grunde eine Hightech-Sklavengaleere –, flieht Yada nach Berlin. Sie trifft auf ihre Mutter, die zu einer Art Sekten-Guru geworden ist und in einem Slum im Tiergarten wohnt, inmitten einer von Armut und Klimakatastrophe gezeichneten Hauptstadt.

Nicht schon wieder Neoliberalismuskritik, werden sich manche denken – und in großen deutschen Feuilletons wie der Zeit wurde das über diesen Roman auch so geschrieben. Aber Enzensberger holt weiter aus, macht die unausweichliche Dringlichkeit der Lage deutlich. Sie hat sich für ihr Buch etwa intensiv mit dem Silicon-Valley-Guru Peter Thiel befasst, einer besonders düsteren Tech-Gestalt. Wenn man die Autorin danach fragt, sprudelt es nur so aus ihr heraus. Stringent und ohne dabei in den üblichen gesellschaftskritischen Tonfall der Empörung zu verfallen, erklärt sie, wieso wir – wenn wir etwa nach San Francisco blicken, wo rechtslibertäre Politaktivisten wie Thiel mit Millioneninvestitionen die Trump-Agenda unterstützen – uns im Grunde genommen schon jetzt in einer Science-Fiction-Version der Gegenwart befinden.

Der PayPal-Gründer Thiel ragt mit seinen unverhohlenen Statements zwar besonders hervor. So etwa, als er mit den vermeintlich liberalen Chefs von Google und Apple Trump hinter verschlossenen Türen bei seiner harten Immigrationspolitik beriet. In Wahrheit ist er aber nur einer von vielen.

Theresia Enzensberger will andere Debatten

Enzensberger sagt dazu: „Ich wollte mich mit dem allerextremsten Teil des hyperkapitalistischen Spektrums Amerikas beschäftigen, verstehen, wohin entfesselter Neoliberalismus und extreme finanzielle Machtkonzentration führen werden.“ Doch auch die amerikanische Linke inspiriert sie. Sie sei progressiver und vielseitiger als die deutsche. Enzensberger hat selbst lange in den USA gelebt, in New York Film studiert und ist noch regelmäßig dort. In Teilen der amerikanischen intellektuellen Linken würde man „auch mal Neues denken“, die Leute seien nicht in ewigen Kulturkämpfen festgefahren, erklärt Enzensberger: „Ich habe keine Lust mehr, über Cancel Culture zu reden, über Winnetou oder sonstige Twitter-Debatten, in denen alle Argumente längst ausgetauscht sind.“

Sie will sich nicht mit Grabenkämpfen aufhalten, die sich allenfalls im Ton verschärfen, nicht aber in der Stichhaltigkeit der Argumente. Es geht ihr darum, große politische Probleme zu begreifen, in die uns eine „neoliberale Geisteshaltung“ bereits hineinkatapultiert hat. Sie will auch vor libertären Fanatikern warnen, die einerseits Politiker finanzieren, die sich sträuben, die Klimakatastrophe aufzuhalten, und sich andererseits als steinreiche Prepper auf einen Weltuntergang vorbereiten. Oder darauf, dass die sozialen Spannungen zu groß werden und der Rest der Nation sich gegen sie erheben könnte.

Dass diese Endzeitpläne, wie Enzensberger selbst sagt, nach Sci-Fi klingen, dürfte auch dazu beigetragen haben, dass diese Bubble sie so fasziniert. Die Leidenschaft für Science-Fiction hat sie durch ihre Mutter entdeckt, die sie in ihrer Danksagung am Ende von „Auf See“ am ausführlichsten erwähnt. Und noch eine andere dort aufgeführte Leidenschaft dürfte sie von ihr mitbekommen haben: das genaue Lesen, die akribische Auseinandersetzung mit der politischen Theorie.

Theresia Enzensberger
Theresia EnzensbergerMax Eicke für Berliner Zeitug

In den dunkelsten rechtslibertären Reddit-Foren

Bei Enzensberger mündet das in eine Art Turborecherchieren, einen Aspekt ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, dem sie sich mit größter Intensität hingibt. „In die dunkelsten rechtslibertären Reddit-Foren“ habe sie sich eingearbeitet, um dieses Buch zu schreiben. Auch über Sekten, über politische Ökonomie und Anarchismus habe sie gelesen und dabei „viel zu viel Geld für Stapel von Büchern ausgegeben“. In einem dritten sich durch „Auf See“ ziehenden Erzählstrang versammelt Enzensberger unter dem Titel „Archiv“ kurze Texte in essayistischem Stil, in denen sie die Leserinnen und Leser an ihrer Recherche teilhaben lässt. Zum Beispiel mit dem Fundstück, wie Leicester Hemingway, der kleine Bruder von Ernest, vor der Küste Jamaikas ein Floß festzurrte und dort „New Atlantis“ ausrief. Nach US-amerikanischem Recht war das sogar legal. Hemingway behauptete, dort besonders reichhaltige Vogelkacke, Guano, gefunden zu haben, die sich gut als Dünger eignete. Solche Vorkommen berechtigten den Finder nach dem Guano Islands Act von 1856, den Fundort für die USA zu besetzen, solange dieser noch zu keinem anderen Staat gehörte. Leicester erklärte also kurzerhand die Hälfte seines Floßes zu US-amerikanischem Staatsgebiet.

Was auch auf dem Fundament dieser großen Recherchetätigkeit entstanden ist, ist ein Zukunftsroman, der uns mitten in die Gegenwart führt. Mit einem ordentlichen Schuss Sci-Fi, was Theresia Enzensberger beim Schreiben vermutlich besonders großen Spaß gemacht – auch wenn es sich um eine gruselige Materie handelt. Viktorianische Schauerromane lieben sie und ihre Mutter übrigens auch.