Betrachte es als mein Arschgeweih, sagt Julia zu Thilo über die Narben an ihren Unterarmen. „Ich wollte meine Eltern schockieren, Teeniekram.“ Anders als die Leser kennt er ihre Eltern noch nicht. Hier, im letzten Drittel des Romans „Liebe ist gewaltig“, ist längst klar, warum Julia – eigentlich Juli –mit dem Leben spielte. Und anders als Thilo sind die Lesenden kaum geschockt, wenn sie ihn anblafft: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich je mit einem Sachsen schlafe.“ Diese Frau verhält sich extrem, ihr fehlt es an sozialer Intelligenz, während ihre geistigen Fähigkeiten enorm sind. Dieses Buch ist laut, oft schockierend, ja: gewaltig.
Mit den Jahreszahlen 2007, 2014 und 2016 sind die drei großen Abschnitte des Romans überschrieben. Die Zeiten lassen sich an Markenkleidung, Musik und Mode gut erkennen. Als Handlungsorte wirken Städtchen bei Stuttgart, Berlin und Zürich knapp und treffend charakterisiert. Nur das, was hier in dem literarischen Debüt der Journalistin Claudia Schumacher als „Liebe“ bezeichnet ist, passt nicht zur landläufigen Vorstellung.
Der Ostler sucht den Aufstieg, die Westfrau ist nah am Absturz
Liebe tritt vor allem als die böse Schwester von Hass in Erscheinung. Es geht auf mehreren Ebenen um einen drastischen Gegensatz zwischen Schein und Sein. So kommt auch dem erwähnten Thilo die Rolle des Antagonisten zu: Juli/Julia ist in einem Anwaltshaushalt aufgewachsen, Thilo aus Hoyerswerda wurde von der Oma aufgezogen. Er sucht den Aufstieg, sie befindet sich immer nah am Absturz.
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„Nach außen waren wir natürlich die totale Musterfamilie“, sagt Juli anfangs. Da ist sie 17 und befindet sich in einer Rehaklinik; warum sie dort ist, erklärt sich nach und nach. Überhaupt geht die Autorin mehrfach in der Chronologie einen Schritt voraus, um dann ein Stück zurückzublicken. Und nachdem sie in den ersten beiden Abschnitten eine Ich-Erzählerin installiert hat, schreibt sie den dritten aus der Außenperspektive. Das überzeugt: Schumacher hat ihren Stoff einmal umgeschichtet.
Der stadtbekannte Anwalt führt zu Hause ein Angstregime. Unter dem Blick des Vaters ziehen Juli und die Mutter sich zusammen „wie billiges Supermarktfleisch in der Pfanne“. Erst bringt Juli Sport-Pokale nach Hause, dann wird sie vom Vater bei Familienfesten „wie ein Stier durch die Manege geführt und musste meine Rechenkünste beweisen“. Auf seine Wutanfälle reagiert die Mutter sanft. „Mama, die Tatortreinigerin“, urteilt die Tochter.
Wie beißt man nachhaltig auf Granit?
Die Expressivität des ersten Drittels entspricht stilistisch dem Niveau des brutalen Vaters. Schumacher zeigt im Verlauf, dass die Verhältnisse der Kindheit nicht nur auf der Haut ihre Spuren hinterlassen haben. Manch ein Sprachbild wirkt bei der erwachsenen Juli allerdings schief, etwa wenn sie „nachhaltig auf Granit“ beißt, sagt, zuweilen löse sie sich „in Leistung auf“ wie ein Aspirin im Wasserglas oder feststellt: „Ich breche in schneidendes Gelächter aus.“
Der Roman um ein von Grund auf beschädigtes Leben führt seine Figuren wiederholt über Grenzen, an denen sie hätten stoppen können. Claudia Schumacher buchstabiert durch, was man eine toxische Beziehung nennt. Dabei ist es die Familie, die Herkunft.
Claudia Schumacher: Liebe ist gewaltig. Roman. dtv, München 2022. 374 Seiten, 22 Euro.