Sinn und Form darf nicht erscheinen. Die Redaktion und ihre Leser wehren sich

Nachdem das Berliner Landgericht die Akademie der Künste dazu verurteilt hat, die Herausgabe der Zeitschrift zu stoppen, gibt es Protest und bald eine Lesung.

Das Gebäude der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin. Hier ist der Sitz der Redaktion Sinn und Form.
Das Gebäude der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin. Hier ist der Sitz der Redaktion Sinn und Form.Schöning/Imago

Im ersten Heft der Zeitschrift Sinn und Form für 2023 gibt es einen bisher unveröffentlichten Text des im vergangenen Herbst verstorbenen Wolfgang Kohlhaase. „Onkel, hast du Feuer?“, so der Titel, wurde vom Drehbuchautor und Schriftsteller noch der Redaktion übergeben. „Der Text präsentiert sich als Filmexposé, funktioniert im Grunde aber auch als Erzählung“, beschreibt ihn der Chefredakteur Matthias Weichelt. Wer schnell war, hat sich die Ausgabe im Buchhandel besorgt oder im Abo erhalten. Jetzt darf die 140 Seiten dicke Zeitschrift nicht mehr verkauft werden. Auch die bisherigen Ausgaben nicht. Das hat, wir berichteten, das Landgericht Berlin so verfügt. Aber vielleicht kann man den Kohlhaase-Text Anfang April wenigstens hören. Weichelt kündigt einen Leseabend an.

Vorausgegangen war eine Klage durch den Geschäftsführer der Kulturzeitschrift Lettre International, Frank Berberich. Er sieht sich am Markt benachteiligt, weil Sinn und Form in der Herausgeberschaft der Akademie der Künste, einer von der Bundesrepublik Deutschland getragenen Körperschaft des öffentlichen Rechts, erscheint. Lettre International dagegen ist seit Mitte der 1990er-Jahre Eigentum der unabhängigen Lettre International Verlags-GmbH Berlin. Die wirtschaftliche Situation ist angespannt. So gut wie alle Zeitungen und Zeitschriften haben seit der rasanten Entwicklung des Internets mit Auflagenschwund zu kämpfen.

Es droht eine hohe Geldstrafe, sogar Haft

In der Urteilsbegründung des Landgerichts Berlin heißt es zum Tatbestand, „die Klägerin“, also Lettre International, „sieht sich durch die staatliche Förderung von ihrer Ansicht nach im Wettbewerb mit ihr stehenden Zeitschriften wie der Zeitschrift ,Sinn und Form‘ in ihrer wirtschaftlichen Handlungsfreiheit beeinträchtigt“. Und obwohl die Akademie der Künste dagegenhält, dass für Sinn und Form „die inhaltliche Neutralität organisationsrechtlich und tatsächlich abgesichert“ sei, konstatiert das Gericht, sie habe „das Gebot der Staatsferne verletzt“.

Eine Zahlung von 250.000 Euro Strafe stehen bei Zuwiderhandlung an. Oder die Akademiepräsidentin Jeanine Meerapfel muss ins Gefängnis.

Das möchte Matthias Weichelt von Sinn und Form nicht riskieren. Gegenüber der Berliner Zeitung äußert er sein Unverständnis, dass es zuvor keine Kontaktaufnahme von Frank Berberich in seine Richtung gab. „Da kam gleich Anwaltspost“, sagt er. Statt nun Stift und Laptop zur Seite zu legen, kümmert er sich jetzt um Dinge, von denen er seit seiner 2006 begonnenen Tätigkeit in der Redaktion, deren Chef er 2013 wurde, nichts ahnen konnte. Der Literaturwissenschaftler liest juristische Fachartikel, bespricht mit der Justiziarin des Hauses, welche Änderungen in der Satzung der Akademie die strittigen Punkte klären können, und betreut mit seinen Kollegen Gernot Krämer und Elisa Primavera-Lévy die länger werdende Liste von Unterstützern für die Stellungnahme des Beirats der Zeitschrift.

Der besteht aus der französischen Schriftstellerin Cécile Wajsbrot sowie ihren deutschen Kollegen Ingo Schulze und Michael Krüger. Sie schreiben: „Wir sind schockiert über diesen in der Geschichte der deutschen Literatur- und Kulturzeitschriften einmaligen Versuch, ein traditionsreiches, international hochangesehenes Periodikum auf diese Weise auszuschalten.“

Der Beirat verweist auf die Rolle der Zeitschrift in der DDR, als kritische, oppositionelle Stimmen dort Raum fanden. Heute sei „sie eines der ganz wenigen publizistischen Formate, die nicht aus der Bundesrepublik stammen und damit auch andere Traditionslinien weiterführen“. Während die Buchproduktion in der DDR gegängelt war durch die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim Kulturministerium, fand für die Zeitschrift keine Vorzensur statt. Damit war sie zwar kein Organ des wilden Widerstands, doch in Gedichten, Briefwechseln, Manuskriptauszügen wurden Grenzen ausgereizt. Legendär in dieser Hinsicht ist die Veröffentlichung von Volker Brauns „Unvollendeter Geschichte“ 1975, die in der DDR nie in Buchform erscheinen konnte. In der Familie der hier Schreibenden fällt dieses Heft innerhalb der Sammlung der Sinn-und-Form-Jahrgänge als abgegriffen, zerlesen auf: oft verborgt, häufig gelesen.

Friedrich Dieckmann wirbt um Verständnis

Zu den Erstunterzeichnern der Stellungnahme des Beirats gehört der Schriftsteller Friedrich Dieckmann, der über die Jahrzehnte mehrfach bei Sinn und Form veröffentlichte, aber auch etliche Beiträge für Lettre International geschrieben hat – Artikel, die ihm dort thematisch und formal besser aufgehoben schienen. Denn die illustrierte, großformatige Kulturzeitschrift hat ein anderes Profil als das mit „Beiträge zur Literatur“ untertitelte Sinn und Form.

So sieht das Verkaufsregal im Eingangsbereich der Akademie der Künste am Pariser Platz aus, nachdem alle Ausgaben der Zeitschrift Sinn und Form entfernt wurden. Die Redaktion postete das Bild auf Twitter. 
So sieht das Verkaufsregal im Eingangsbereich der Akademie der Künste am Pariser Platz aus, nachdem alle Ausgaben der Zeitschrift Sinn und Form entfernt wurden. Die Redaktion postete das Bild auf Twitter. Sinn und Form

Dieckmann publizierte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Gastbeitrag zu dem Konflikt, aus dem Bedauern, ja Schmerz über die Situation spricht. „Es gilt das ergangene Urteil juristisch zu überprüfen, und es gilt pragmatische Lösungen im Rahmen des Zulässigen und Gebotenen zu finden; das gilt auch und besonders für eine Über­lebenshilfe für die offenbar gefährdete Zeitschrift ,Lettre International‘.“ Er macht also keine Fronten auf, sucht, nach vorn zu schauen. Einer seiner Vorschläge, Berberichs Zeitschrift zu unterstützen, ist sie „einer anderen staatsfinanzierten Kultureinrichtung“ zuzuordnen, etwa dem Haus der Kulturen der Welt oder der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz.

Er ist kein Jurist. Selbst für Juristen ist der Fall ungewöhnlich. Das sieht man auch daran, dass sich das Landgericht Berlin nur auf ein Urteil zur Staatsnähe des Crailsheimer Stadtblatts beziehen kann. Luisa Zimmer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität, beendet längere Ausführungen zu dem Vorgang auf Verfassungsblog.de mit der Bemerkung, das Urteil lasse „mehr offen als es klärt“. Und: „Die Zukunft des kleinen Marktes intellektueller Zeitschriften bleibt damit bis auf Weiteres: ungewiss.“

Der Lehrstuhlinhaber, der Verfassungsrechtler Christoph Möllers, wird am 29. März im Literaturhaus mit Matthias Weichelt und anderen über die Situation sprechen. Vier Tage später gibt es im Literarischen Colloquium Berlin einen literarischen Abend für Sinn und Form. Da wird aus der Ausgabe gelesen, die jetzt nicht verkauft werden darf. Vielleicht auch der Text von Kohlhaase. Denn das Vorlesen ist erlaubt, ohne dass die Akademiepräsidentin dafür mit dem Gefängnis rechnen muss.