Strauß mit Schnapsnase und andere Ideen der Mechtilde Lichnowsky
Eva Menasse, das Literaturhaus Berlin und eine vierbändige Ausgabe feiern die Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky (1879–1958).

Vögel zwitschern, Besteck klimpert, Autos rumpeln vorbei. Janika Gelinek, eine der beiden Chefinnen des Literaturhauses Berlin, bittet am Montagabend das Publikum, die Kopfhörer aufzusetzen. Die sollen alle Nebengeräusche ausblenden, wenn die Präsentation der Werkausgabe von Mechtilde Lichnowsky beginnt. Und mit den Nebengeräuschen hoffe sie auch das Nebenrauschen der Zuschreibungen auszuschalten: „die Gattin von“, „die Freundin von“. Gefeiert werden soll eine großartige Schriftstellerin.
Die Kopfhörer sind das Mittel, um hier im Garten an der Fasanenstraße im Freien konzentriert dem Gespräch über Bücher zu lauschen. Dass hinter den Stuhlreihen noch die Gäste des Literaturhaus-Cafés an Tischen ihr Abendessen einnehmen, kann man vergessen. Und als nach etwa einer Stunde die Kulturstaatsministerin Claudia Roth vorbeischleicht, ist das ähnlich wenig interessant wie das Gehangel zweier Tauben im Efeu an der Hauswand nebenan.
Mechtilde Lichnowsky und das Spatzen-Zwi
Obwohl: Tiere kommen so einige bei Mechtilde Lichnowsky vor. In „Götter, Könige und Tiere in Ägypten“ lassen Spatzen die 1879 als Ur-Ur-Enkelin der Habsburgerin Maria Theresia geborene Autorin in Kairo an die Heimat denken: „Solange die Spatzen ihr wenig variiertes Zwi geschrien hatten, war ich weit, weit in meiner Kindheit gewesen, – bei Ludwig dem Bayern, Friedrich dem Schönen, Karl V., bei Miltiades ...“. Die Schauspielerin Claudia Michelsen liest einen Ausschnitt aus dem 1913 bei Rowohlt erstmals erschienen Buch.
Eine andere Passage gilt dem Besuch einer Straußenfarm. Lichnowsky betrachtet die Beine des Großvogels und denkt „an eine Schnapsnase; genau wie an dieser sieht man rote Äderchen, bloß dass die Haut runzelig ist“. Die Schriftstellerin Eva Menasse, als „Patin“ der Werkausgabe im Literaturhaus-Garten, lobt den Einsatz von Tiermetaphern: präzise und verständlich. Für das Publikum zieht sie die Tiere in den Büchern der Berliner Autorin Katja Lange-Müller zum Vergleich heran.
Menasse hat ein begeistertes Vorwort verfasst für die im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot-Stiftung sorgsam von Günter und Hiltrud Häntzschel herausgegebene Ausgabe. Die beiden Literaturwissenschaftler sind ebenfalls nach Berlin gekommen, sprechen darüber, wie sie aus dem Werk eine Auswahl treffen mussten. Auch wenn nun mehr als 1800 Seiten vorliegen, fehlen doch die Schauspiele, viele Essays, Feuilletons, auch der gesamte Briefwechsel der Schriftstellerin. Die Freundschaft mit Rainer Maria Rilke etwa, von der gern gesprochen wird, um die Autorin durch die Nähe zu einem Mann prominenter zu machen, die habe sich ja nur in Briefen zugetragen. Und Eva Menasse ergänzt, dass darüber auch verschwiegen werde, dass die Adlige, für den verarmten Dichter Geld sammelte.
Als Frauenliteratur abqualifiziert
Die Geringschätzung schreibender Frauen ist noch ein junges Thema. Wie mit dem Werk von Lichnowsky umgegangen wurde, ist ein gutes Beispiel dafür. Hiltrud Häntzschel weist darauf hin, dass nicht nur die gesellschaftlichen Umbrüche (sie erlebte den Untergang des Kaiserreichs, den Ersten und Zweiten Weltkrieg) daran schuld sind, dass Lichnowsky ins Vergessen geriet. Die Verlage waren oft nicht gefasst auf die Vielfalt dieses Werks. In der jungen Bundesrepublik seien ihre Bücher als Frauenliteratur und damit als Unterhaltung abqualifiziert worden.
In einem Essay, den Michelsen auch vorträgt, beschäftigt Lichnowsky sich mit dem angeblichen „Mut der Frauen“ und folgert nach einer spannenden Episode, „auch die Frau gelangt zu Erkenntnissen, blitzschnell sehend oder im Laufe der Zeit denkend, liebend, leidend“. Das sind zeitgemäße Gedanken wie auch jene, die sie in ihrem Buch „Worte über Wörter“ zusammenfasste.
Sie schrieb daran 1939 in Deutschland, konnte es aber erst zehn Jahre später publizieren. Sie hatte sich geweigert, der Reichsschrifttumskammer beizutreten, was seit Ende 1933 Voraussetzung war, um im NS-Staat zu veröffentlichen, ging nach England und heiratete einen britischen Major. London war ihr noch aus der Zeit der ersten Ehe mit Karl Max Lichnowsky (1860–1928) vertraut, dem zeitweiligen deutschen Botschafter in Großbritannien. Nach einem Besuch bei ihrer Schwester in München durfte sie nicht nach England zurück, stand als britische Staatsbürgerin unter Polizeiaufsicht.
Lichnowskys Stilkritik an Füllseln, falschen Attributen und gestelzter Sprache lesen sich so frisch, dass man die „Worte über Wörter“ direkt in der Journalisten-Ausbildung einsetzen könnte. Und da ist noch viel mehr, was heutig klingt in diesem Werk. Deshalb stehen die Podiumsgäste noch lange mit Leuten aus dem Publikum zusammen, ohne Kopfhörer, an einem schönen Sommerabend.
Mechtilde Lichnowsky: Werke. Hrsg. von Günter und Hiltrud Häntzschel. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2022. Vier Bände im Schuber. 1872 Seiten, 60 Euro