Im Kopf von Putins Berater: Ein Roman über den „Magier im Kreml“
Der Autor und Politikkenner Giuliano da Empoli hat einen Roman über das Zentrum der russischen Macht geschrieben. Mit Fiktion will er der Wahrheit näher kommen.

Der Titel seines Buches „Der Magier im Kreml“ meint nicht Wladimir Putin. Der Roman erzählt von jemandem aus der unmittelbaren Nähe des Kremlchefs, der lange seinen Einfluss nutzen konnte. Als es im Original in Frankreich erschien, erfuhr es sofort eine hohe Aufmerksamkeit. Denn es steht zwar „Roman“ drauf, aber der Autor Giuliano da Empoli ist ein politischer Kopf. Jetzt ist die deutsche Ausgabe erschienen und wir treffen da Empoli in den Räumen des Verlags C. H. Beck in Berlin-Mitte.
Giuliano da Empoli, wann waren Sie das letzte Mal in Russland?
Lassen Sie mich überlegen, ein paar Jahre ist es her. Es müsste 2018 gewesen sein.
Die Frage hat einen einfachen Hintergrund. Sie sind in Paris geboren, wo Sie auch leben. Sie waren in verschiedenen Funktionen in Italien politisch tätig, auch als Berater des Ministerpräsidenten Matteo Renzi. Ihr Roman aber erzählt über Jahrzehnte aus dem Innern Russlands. Was haben Sie mit Russland zu tun?
Es gibt verschiedene Zugänge, die man zu Russland haben kann. Da wären die Literatur, die Sprache und die russische Kultur, man kann sich auch wegen der Politik und der Ideologien des 20. Jahrhunderts für Russland interessieren. Mein Zugang war noch ein wenig anders: Schon bei meinem ersten Besuch in Moskau habe ich geradezu physisch die Atmosphäre der Macht, ihren Einfluss auf das Leben der Menschen gespürt. Zwar bin ich kein Russland-Experte, aber durchaus ein Experte in Fragen von Macht, Propaganda, Manipulation, und ich halte es für sinnvoll, aus dieser Perspektive auf Russland zu schauen. Mein Roman spielt in Russland, aber handelt von Macht.

Der Magier im Kreml. Roman. Aus dem Französischen von Michaela Meßner. C.H.Beck, München 2023. 265 Seiten, 25 Euro
Deutsche Leser könnten Sie durch ein Sachbuch kennen: „Ingenieure des Chaos“. Darin geht es, grob gesagt, um die Berater von Politikern. Die Figur im Zentrum Ihres Romans Wadim Baranow hat ein Vorbild aus der Realität: Wladislaw Surkow, der bis 2020 ein enger Berater von Wladimir Putin war. Warum haben Sie ihn nicht zu den „Ingenieuren“ genommen, sondern vorgezogen, einen Roman über ihn zu schreiben – Fiktion also?
Lassen Sie es mich so sagen: Ich habe das Fiktionale nicht gewählt, um der Realität auszuweichen, sondern um ihr näher zu kommen. Bei einem Sachbuch haben Sie bestimmte Grenzen, die Sie nicht überschreiten können, das ist die Faktenlage, die Überprüfbarkeit der Aussagen. Ich wollte aber in den Kopf dieses Menschen schauen. Ich wollte sein Denken verstehen, auf Grundlage dessen, was ich über ihn recherchiert habe, mit meinem Wissen über Macht, mit meinen Erfahrungen. Da gibt es zum Beispiel eine Szene in der UN-Generalversammlung in New York: Ich war nicht dabei, habe aber Ähnliches erlebt und konnte es mir deshalb vorstellen.
Und Sie schreiben an der Stelle so genau, dass es sich fast dokumentarisch liest.
Ja, wenn die Mächtigen zusammenkommen, sind sie es gewohnt, dass für sie Straßen gesperrt werden und ihre Begegnungen nach einer genauen Choreografie ablaufen. Wenn etwas dazwischenkommt, gerät alles ins Stocken.
War es aufregend, sich in den Kopf von diesem Spindoktor Putins zu begeben?
Ich fand es sogar gefährlich. Nicht in dem Sinne, dass mir körperlich etwas hätte passieren können. Aber er ist ja kein angenehmer Mensch und ich musste mich auf seine Sicht, seine Gefühle einlassen. Ich habe mich selbst in eine andere Realität projiziert. Das war manchmal beängstigend.
Haben Sie überlegt, direkt über Putin zu schreiben, ohne den Umweg über Wladislaw Surkow?
Der Berater interessierte mich einfach mehr. Er ist ja auch keine typische Figur in seinen Kreisen. Putin hat sich mit vielen ehemaligen KGB- oder FSB-Leuten umgeben, mit gewieften Geschäftsleuten aus seiner Petersburger Zeit, aber der reale Surkow wie mein Baranow haben eine klassische musische Bildung, kennen die westliche Kultur sehr gut. Das habe ich noch verstärkt. Baranow lehnt Gewalt ab, er hat Distanz zu seiner Rolle und begreift sie fast wie ein Spiel.
Können Sie durch diese Arbeit Handlungen von Wladimir Putin verstehen? Hatten Sie den Einmarsch Russlands in die Ukraine vorausgesehen?
Nein, mit der Invasion am 24. Februar habe ich in dieser Form nicht gerechnet. Aber Russland hält ja seit 2014 schon Gebiete besetzt. Putins Verhältnis zur Gewalt zeigte sich vorher, zum Beispiel wie er auf die Anschläge 1999 reagierte und damit den Zweiten Tschetschenienkrieg auslöste. Ich erkunde mit dem Roman das Geflecht von Macht, Gewalt und Kultur. Der Berater steckt darin. Seine Kultiviertheit steht im Widerspruch zur Gewalt, aber sie hilft der Macht.
Ihr Roman hat in Frankreich einen riesigen Erfolg, 500.000 verkaufte Exemplare, die Auszeichnung mit dem Grand Prix du Roman de l’Académie française. Das hat sicher auch mit dem Krieg zu tun. Wie fühlt sich das an?
Das ist natürlich seltsam. Der Roman, für den ich mich so lange Zeit in Putins Umgebung gedacht habe, war Anfang des Jahres fertig und erschien im April. Für das Marketing mag die politische Aufmerksamkeit in Ordnung sein, ich hätte lieber nicht diesen Grund. Aber letztlich sehe ich das fatalistisch: Ich habe das Manuskript aus der Hand gegeben, das Buch geht seinen eigenen Weg.
Als Politikwissenschaftler haben Sie sich viel mit Europa beschäftigt. Ist die Souveränität der Ukraine wirklich so wichtig für die Freiheit Europas?
In der Tat teilen wir mit vielen Ukrainern Werte und eine Lebensweise, die Putins Regime als feindlich ansieht. Putins Offensive zu stoppen, ist nicht allein für die Ukraine von fundamentaler Bedeutung, auch für den Rest Europas. Und wir können stolz sein, dass Europa viel entschiedener in seiner Unterstützung für die Ukraine vorgegangen ist, als es zu erwarten war. Das heißt aber nicht, dass sich die deutsche, französische und italienische Regierung zu 100 Prozent mit der Position der Ukraine identifizieren sollten. Das wäre nicht einmal hilfreich.
In Deutschland gibt es Stimmen, die warnen, dass Putins Armee nicht militärisch zu schlagen sei. Was sagen Sie zur Perspektive des Krieges?
Ich glaube nicht, dass es schnell gehen wird. Es gibt diese Idee, dass der Westen schnell und stark handeln muss, weil wir einen langen Krieg nicht durchhalten würden. Ich denke eher, dass wir uns darauf einstellen sollten, über eine lange Zeit Stärke zu zeigen, aber eben in der Verteidigung. Allerdings bin ich nicht der Richtige, diese Frage zu diskutieren, da gibt es Spezialisten, die sich besser auskennen. Ich habe nur einen Roman geschrieben.
Sie sind immerhin Gründer eines internationalen Thinktanks, Volta. Haben Sie eine Vorstellung, wo Putins rote Linien sind?
Wie gesagt, ich bin kein Putin-Spezialist, aber ich kenne mich mit Mechanismen der Macht aus. Die Strategie des Chaos, die im Buch eine Rolle spielt, wird meiner Meinung nach derzeit von Putin angewandt, indem zivile Ziele in der Ukraine angegriffen werden, Wohnhäuser zerbombt werden und vor allem die Infrastruktur von Energie und Verkehr. Daneben können wir in Russland sehen, dass Putin von dem Krieg profitiert, indem er seine Macht im eigenen Land festigen konnte, eine strengere Ordnung errichtet hat. Wer sich dagegenstellt, muss damit rechnen, ins Gefängnis zu kommen. Ich nenne das die Vertikale der Macht. Dagegen stehen die ökonomischen Probleme durch die Sanktionen des Westens. Wenn Russland auch objektiv gesehen schwächer wird, dürfte Putin relativ stärker werden.
Wadim Baranow sagt oft „der Zar“, wenn er Putin meint. Ist das in Russland erlaubt?
Es gibt eine Anekdote von dem Journalisten Alexej Alexejewitsch Wenediktow von Echo Moskau, der Putin zweimal getroffen hat. Putin fragte ihn etwa im Jahr 2008, was er denke, welchen Platz er eines Tages in den Geschichtsbüchern haben werde. Der druckste ein bisschen herum, sprach von der Wirtschaft und so, fand nicht so viel. Und dann traf er ihn 2014 nach der Besetzung der Krim wieder und Putin wollte wissen, wie es nun aussehe. Wenediktow wusste erst gar nicht, was gemeint war. Aber das zeigt als lange Antwort auf eine kurze Frage: Putin denkt gern in historischen Zusammenhängen. Ich glaube, er hätte nicht so viel dagegen, wenn man ihn einen Zar nennt.