Vier Literatur-Klassiker, die Sie in diesem Sommer lesen sollten

Sommerzeit ist Lesezeit. Viele greifen auf Zeitgenössisches und Neues zurück, aber auch die Klassiker bieten einiges an Stoff für unsere Zeit. Vier Empfehlungen.

Die Klassiker für den Sommer, v.l.n.r.: Goethe, Haushofer, Dostojewski, Baldwin
Die Klassiker für den Sommer, v.l.n.r.: Goethe, Haushofer, Dostojewski, BaldwinRoshanak Amini für Berliner Zeitung

Die Sommerzeit wird immer länger und heißer. Ob Sie in diesem Sommer ein kleines Heimprojekt starten, zu Hause auf der Couch entspannen oder weit reisen: Ein Buch ist immer ein guter Begleiter für träge Tage. Wenn Ihre Schulzeit schon eine Weile hinter Ihnen liegt, denken Sie bei Sommerlektüre wahrscheinlich nicht mehr an die kleinen Reclamhefte, in denen die Klassiker der Literaturgeschichte erscheinen.

Warum es sich dennoch lohnt, mal wieder in den Kanon zu schauen (so ganz ohne Lektüreschlüssel)? Wenn man es wagt, stellt man fest, dass diese gefürchteten Klassiker nicht nur Spaß machen, sondern dass wir ganz schön viel gemeinsam haben mit Goethe & Co. Egal, ob es sich um Renovierungsarbeiten, verbotene Liebesaffären oder unerträgliche Hitze handelt: Auch die Protagonist:innen der Literaturgeschichte mussten sich damit schon herumschlagen. Zum Wieder- oder Neueinstieg stellt die Journalistin und Literaturexpertin Maria Wollburg hier vier Klassiker vor, die keine Arbeit machen, zum Sommer passen und uns darüber hinaus an die schönsten Orte der Welt führen.

„Die Wahlverwandtschaften“, von Johann Wolfgang von Goethe

Sie kennen das vielleicht: Anstatt in den Urlaub zu fahren, nimmt man sich für das Sommerloch ein Garten- oder Balkonprojekt vor. Doch auf einmal läuft alles schief, man verkracht sich mit der Partnerin oder dem Partner und die Kosten schießen plötzlich ins Unermessliche. Ein ähnliches Schicksal ereilt Charlotte und Eduard, das Ehepaar im Zentrum von Goethes spätem Bildungsroman „Die Wahlverwandtschaften“.

Die beiden wohlbetuchten Adligen wollen eigentlich nur den Garten ihres Landsitzes umgestalten, doch gerade dieses Unterfangen wird zu ihrem Verhängnis, als eine schöne junge Frau und ein gesetzter, sensibler Mann zu ihnen stoßen. Schon der legendäre Medienwissenschaftler Friedrich Kittler schrieb einen Aufsatz über die verhinderte Sexualität, die im Zentrum der komplexen Vierecksbeziehung dieses Romans steht. Allerdings muss man keine Theorie lesen, um an Goethes kontroversem Roman Spaß zu haben: Wir können ihn uns einfach als eine Art La Piscine des frühen 19. Jahrhunderts vorstellen: schöne Häuser, reiche Leute mit viel Freizeit, Schlüsselszenen auf dem Wasser und unheilbare Passion.

Die Wahlverwandtschaften. Reclam. 365 Seiten, 6,20 Euro

„Giovannis Zimmer“, von James Baldwin

James Baldwins Liebesgeschichte aus den 50er-Jahren beginnt an einem Ort, den wir als Traumdestination kennen: an einer Villa in Südfrankreich. Allerdings hat die Saison noch nicht begonnen, das Haus ist kalt und für den Protagonisten Rückzugsort nach der Katastrophe. In einer Rückblende erfahren wir von der passionierten Liebesaffäre des Amerikaners David mit Giovanni, einem in Paris lebenden italienischen Kellner.

Was für den einen ein Coming-of-Age-Fiebertraum ist, wird für den anderen zu einer Tragödie. „Giovannis Zimmer“ ist einer der größten Liebesromane der Literaturgeschichte und eignet sich, obwohl er nicht im Sommer spielt, vor allem auch wegen der Stimmung, die er erzeugt, hervorragend als Sommerlektüre. Die Zeit in „Giovannis Zimmer“ ist scheinbar unendlich und dennoch viel zu kurz. Es dauert nur eine kurze Weile, bis sich David und Giovanni wieder der Realität stellen müssen. Zudem führt uns der Roman an einen verlorenen Sehnsuchtsort: ins Paris der 50er, wo so viele homosexuelle Intellektuelle Zuflucht fanden – und das heute in dieser Form nicht mehr existiert.

Giovannis Zimmer. Übersetzt von Miriam Milkow, erschienen bei dtv. 208 Seiten, 12 Euro

„Der Spieler“, von Fjodor Dostojewski

Der Kurort ist nicht nur ein klassischer Ort für Erholung, sondern bietet auch immer wieder Gelegenheit, sich schlecht zu benehmen. Denn wo sich die einen auskurieren, lauert auf die anderen das Casino. Bad Homburg tritt in „Der Spieler“ als eine Stadt der Täuschungen auf. Zwischen all den Reichen und Schönen ist schwer zu erkennen, wer hier eigentlich ums bloße Überleben kämpft. Wir begegnen hier einer Reihe von tragikomischen Charakteren, aller Art europäischen Adels und einem Erzähler, der zwischen Verliebtheit, Pomp und seiner Spielsucht versucht, richtig zu handeln. Praktischerweise handelt es sich um Dostojewskis kürzesten Roman, sodass man seine feinen, psychologischen Beobachtungen genießen kann, ohne dabei gleich ein 700-Seiten-Projekt stemmen zu müssen.

Der Spieler. Übersetzt von Swetlana Geier, erschienen bei Fischer Taschenbuch. 256 Seiten, 13 Euro

„Die Wand“, von Marlen Haushofer

Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ führt uns mitten ins traumhafte Österreich, wie man es sich vorstellt: grüne Wiesen, dunkler Wald, Enzian, eine Alm. Durch eine mysteriöse Katastrophe wird dieses Bild plötzlich zum Albtraum. Völlig allein und von den meisten Ressourcen der Zivilisation abgeschnitten, muss sich die Erzählerin zurechtfinden in einer Landschaft, die sie liebt und die ihr dennoch feindselig gegenübersteht. Der 1963 erschienene Roman wurde lange als schnöde Frauenliteratur abgetan, Haushofer war fast in Vergessenheit geraten.

Heute wird er als Anti-Heimat-Roman und feministisches Meisterwerk gefeiert. Parallelen zwischen der Situation der Erzählerin und der Zukunft, die uns durch die Klimakrise bevorsteht, sind überdeutlich und unübersehbar. Es gibt derzeit eigentlich kaum einen anderen Klassiker, der die conditio humana so aktuell verhandelt. Im Zentrum des Romans steht die Frage, was von der Menschheit übrig bliebe, wenn sie ausgelöscht würde. Wenn sich diese Beschreibung anstrengend anhört, kann ich an dieser Stelle Entwarnung geben: „Die Wand“ entfaltet eine unglaubliche Sogkraft, die mit der eines Strandkrimis durchaus vergleichbar ist. Über die knapp 300 Seiten kann man das Buch kaum zur Seite legen. Haushofers Hauptwerk vereint alles, was wir uns von einem Sommerklassiker wünschen: Spannung, Aktualität und Kurzweiligkeit auf höchstem Niveau.

Die Wand. Erschienen bei Ullstein Taschenbuch. 288 Seiten, 10 Euro