„Berlin war fraglos ihre Hauptbeschäftigung“ – was für ein Satz in einem Roman!
Der in Berlin lebende italienische Schriftsteller Vincenzo Latronico erzählt in seinem Buch „Die Perfektionen“ von der Stadt in diesem Jahrtausend.

Die aus Südeuropa stammenden Anna und Tom fliehen nach ihren Studienabschlüssen Ende der Nullerjahre in die deutsche Hauptstadt. Weit weg von ihren wohlhabenden, konservativen Familien arbeiten sie als selbständige Kreative, „als Web Developer, Graphic Designer, Online Brand Strategist“. Die beiden Mittzwanziger brauchen zunächst wenig Geld, Mieten und Lebenshaltungskosten sind günstig. Sie stürzen sich in das aufregende Nachtleben von Mitte, Friedrichshain, Kreuzkölln.
Von Anna und Tom erzählt der in Berlin lebende italienische Schriftsteller Vincenzo Latronico in seinem Buch „Die Perfektionen“, das natürlich bei einem Berliner Verlag übersetzt erscheint. Der 1984 in Rom geborene Autor ist im deutschsprachigen Raum bisher mit seinem Roman „Die Verschwörung der Tauben“ (Secession Verlag, 2016) aufgefallen. „Die Perfektionen“ wurde im vergangenen Jahr mit dem italienischen Mondello-Preis ausgezeichnet.
Die Mieten steigen
Anna und Tom lernen bald andere Expats kennen. Sie treffen sich in Bars, Kneipen, Clubs – und in Kunstgalerien, die eine Art zweites Wohnzimmer werden. „Berlin war fraglos ihre Hauptbeschäftigung“, schreibt Latronico. Im Job profitieren Anna und Tom von der Strahlkraft der Stadt: Sie akquirieren zahlungskräftige Kunden aus Südeuropa. Doch verändert sich Berlin im Laufe der Zeit: Mieten und Lebenshaltungskosten steigen und „die Neuankömmlinge kamen immer seltener aus Spanien, Frankreich, Italien und immer öfter aus Bayern oder den Vereinigten Staaten“. Diese arbeiten in der Finanz- und Tech-Branche. Anna und Toms Freundes- und Bekanntenkreis schrumpft, da viele sich Berlin nicht mehr leisten können. Das Paar muss nun mehr arbeiten, hat weniger Zeit. Zudem verspüren Anna und Tom eine schleichende Leere. Mit den Geflüchteten 2015 glauben sie nicht nur per Mausklick, sondern auch vor Ort gebraucht zu werden. Die Enttäuschung ist allerdings groß, als sie merken, dass Arabisch- oder ausreichende Deutschkenntnisse gebraucht werden. Ein herber Schlag. Da hilft nur Tapetenwechsel. Lissabon lockt …
Vincenzo Latronico gelingt es meisterlich, aus der Perspektive der Zugezogenen die soziale Entwicklung Berlins des letzten Jahrzehnts zu erzählen. Er kombiniert sie klug mit der Entwicklung der sozialen Medien, die immer mehr den Alltag der Generation von Anna und Tom dominieren. Das schlägt sich im Erzählstil nieder: Der Text beginnt mit der detaillierten Schilderung der Neuköllner Erkerwohnung von Anna und Tom. Als ob wir dies auf Instagram oder Airbnb sehen: perfekt und menschenleer.
Literarisch erinnert Latronicos Buch an George Perecs Roman „Die Dinge“, in dem ein Paar junger Soziologen sich mit dem wachsenden Konsumismus in der Gesellschaft konfrontiert sieht. Vincenzo Latronico nutzt einen allwissenden, nüchternen Erzähler, der ohne Dialoge, ohne Introspektionen, ohne Emotionen die Story von Anna und Tom schildert. Dabei werden nacheinander Kategorien betrachtet, die wie Reiter auf Webseiten oder Storys bei Social Media fungieren: Nachtleben, Job, Sex und so weiter. „Die Perfektionen“ ähnelt somit viel mehr einem Essay als einem konventionellen Roman. Und obwohl dem Berliner Leser einige kleine Fehler auffallen dürften, ist es doch ein bemerkenswertes Buch über diese Stadt.
Vincenzo Latronico: Die Perfektionen. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Claassen Verlag, Berlin 2023. 128 Seiten. 22 Euro